Wie immer steht mit dem Ende des Jahres auch ein Rückblick auf unser Lesejahr an. 2019 haben wir zwar viele Bücher gelesen, doch trotz der großen Auswahl fiel es uns dieses Mal schwer, wirkliche Highlights auszumachen.
Hier sind die Werke, die uns besonders in Erinnerung geblieben sind.
Bitte beachtet, dass es sich dabei nicht nur um Veröffentlichungen aus diesem Jahr handelt. Ein Klick auf den Titel führt euch zu der jeweiligen Rezension.
Marieke Lucas Rijneveld – Was man sät
Als die zwölfjährige Jas vor Weihnachten bemerkt, dass ihr Vater ihr Kaninchen mästet, betet sie zu Gott, er solle lieber ihren Bruder als das Kaninchen zu sich holen. Noch am selben Tag ertrinkt ihr Bruder. Für die Familie steht fest, dass es eine Strafe Gottes ist und jeder macht sich selbst Vorwürfe. Gemeinsam mit ihrem Bruder Obbe und ihrer Schwester Hanna verliert sich Jas immer mehr in einer Welt von selbst auferlegten Regeln und Spielen.
Mit Was man sät hat Marieke Lucas Rijneveld keinen erbaulichen oder angenehmen Roman geschrieben. Und so geht es bis zum unausweichlichen Ende. Dabei entwickelt sich ein immer stärkerer Sog beim Lesen, der einen in diese unheilvolle und kranke Familienwelt hineinzieht. Ein Buch voller Abgründe, das sowohl faszinierend als auch bedrückend ist. Wer die Härte der Geschehnisse aushalten kann, wird mit einem außergewöhnlichen Buch belohnt.
Fracoise Sagan – Bojour Tristesse
Die siebzehnjährige Cécile aus gutem Hause reist mit ihrem Vater und dessen Geliebten Elsa in den Sommerferien an die Côte d’Azur, um dort in einer gemieteten Villa dem luxuriösen Nichtstun zu frönen. Doch zwischen ausschweifenden Partys und Segeltörns mit Céciles Schwarm Cyril taucht plötzlich eine alte Freundin ihrer Mutter auf und bedroht das komfortable Leben, das sie und ihr Vater sich aufgebaut haben.
Sagan, die erst 18 Jahre alt war, als sie diesen mittlerweile als Literaturklassiker zählenden Roman verfasste, schafft es, eine traumhafte Kulisse zum Ort eines Albtraums werden zu lassen. Abgeklärt und doch aufmüpfig kommt Protagonistin und Erzählerin Cécile unglaublich authentisch rüber und das knapp 160 Seiten kurze, aber atmosphärisch starke Büchlein entwickelt einen beeindruckenden Sog, der seine Leser bis zur allerletzten Seite fesselt.
Carlos Ruiz Zafón – Marina
Óscar Drai ist fünfzehn, als er eines späten Nachmittags im Jahr 1979 in ein verlassen wirkendes Haus im Sarriá-Viertel eindringt und so Marina kennenlernt. Das Mädchen, das ihren kranken Vater pflegt und sonst kaum Kontakt zur Außenwelt hat, freundet sich schnell mit Óscar an. Gemeinsam entdecken sie auf dem Friedhof eine geheimnisvolle Dame in Schwarz, die sie beobachten und verfolgen. Als diese ihnen eine mysteriöse Karte mit einem schwarzen Schmetterlingssymbol und dem Namen sowie der Adresse Michail Kolweniks zukommen lässt, versuchen sie, dem Geheimnis nachzugehen – ohne zu ahnen, in welche Gefahr sie sich begeben.
Zwischen Wahnsinn, Horror und Melancholie bewegt sich Carlos Ruiz Zafóns Roman Marina, der für mich neben Der Schatten des Windes und Das Spiel des Engels zu seinen besten drei Büchern gehört. Es ist eine Geschichte, die ihre Leser sowohl sprachlich als auch atmosphärisch gekonnt gefangen nimmt und erst nach knapp 350 Seiten wieder loslässt – schweißgebadet und mit gebrochenem Herzen.
N. K. Jemisin – The Fifth Season
Die Welt, in der Essun lebt, kennt nicht nur vier Jahreszeiten, sondern fünf. Dabei handelt es sich um die endzeitliche Fünftzeit, die sich durch Erdbeben oder ähnliche Naturereignisse zeigt und bereits einige Zivilisationen ausgelöscht hat. Die sogenannten Orogene können die Kraft der Erde manipulieren und werden mit Ablehnung betrachtet. Essun ist selbst eine Orogene, die in einem Dorf lebt, ohne dass Jija, ihr Mann, oder die anderen Bewohner von ihren Fähigkeiten wissen. Ihre Begabung hat sich allerdings auf ihre Kinder übertragen und Jija ermordet den gemeinsame n Sohn und flieht mit der Tochter. Während Essun die beiden verfolgt, kommt es zu einer neuen Apokalypse und mit einer neuen Fünftzeit bricht das Chaos aus…
N. K. Jemisin bietet mit The Fifth Season, dessen Idee sie aufgrund eines NASA-Workshops für SciFi-Autoren entwickelt hat, erfrischende Fantasy in einem apokalyptischen Szenario, die etwas Neues wagt und diese originellen Ideen gekonnt umsetzt. Die Welt mit ihrer Komplexität schlägt ihre Leser immer mehr in ihren Bann und der Autorin gelingt ein ebenso abwechslungsreicher wie einprägsamer Stil, der den Roman deutlich von der Konkurrenz abhebt. The Fifth Season gehört für mich nicht nur zu den spannendsten und intelligentesten, sondern auch zu den besten Fantasygeschichten der letzten Jahre.
Hanya Yanagihara – Das Volk der Bäume
Norton Perina hat gerade sein Medizinstudium beendet, als sich ihm eine ungeahnte Möglichkeit bietet: er soll den Anthropologen Paul Tallent auf die mikronesische Insel Ivu’ivu begleiten. Dort habe dieser einen bisher unbekannten Stamm gefunden, der völlig abgeschottet von der Zivilisation lebt. Doch vor Ort macht die Gruppe eine noch viel bedeutendere Entdeckung: sie stoßen auf Ureinwohner, die aussehen, als wären sie erst 40 Jahre alt – nach Perinas Untersuchungen zufolge müssten sie jedoch jenseits der 100 sein. Jahrzehnte später ist Perina des Kindesmissbrauchs angeklagt und schreibt die Geschichte seiner legendären Forschungen nieder. Doch wie viel Wahrheit steckt in den Anschuldigungen?
Hanya Yanagiharas Debütroman Das Volk der Bäume, der im Januar ins Deutsche übersetzt wurde, ist wie auch ihr Bestseller Ein wenig Leben eine absolute Wucht. Sprachlich und inhaltlich dicht und überzeugend nimmt er uns mit auf eine exotische Insel, tief hinein in den Kolonialismus und den Wettstreit um die bahnbrechendste wissenschaftliche Entdeckung. Moralische Ambiguität und ein zwiegespalten zurücklassender Protagonist schaffen es, mich bis zur allerletzten Seite zu fesseln und mich mit genügend Stoff zurückzulassen, den es lange zu verarbeiten gilt. Was für ein Buch!
Michel Houellebecq – Karte und Gebiet
Der Gegenwartskünstler Jed Martin wird aufgrund seiner Porträts berühmt. Einer der Porträtierten ist der bekannte Schriftsteller Michel Houellebecq. Für eine Ausstellung soll er ein Kapitel zum Katalog beisteuern. Houellebecq erweist sich bei den Treffen mit Jed ganz anders als dieser ihn erwartet hat. Als ein grausamer Doppelmord geschieht, wird auch Jed befragt, der als eine der letzten Personen Houellebecq lebendig gesehen hat.
Fast könnte man meinen, Houellebecq wäre mit Karte und Gebiet zahm geworden (die nachfolgenden Romane belegen das Gegenteil). Die Provokationen sind eher zurückhaltend, dafür stehen die Künstlerfiguren im Mittelpunkt und das von den Medien vermittelte Image des Autors. Die Art und Weise wie Houellebecq verschiedene Genres vermischt, sich selbst dabei treu bleibt und einen Blick auf die moderne Gesellschaft wirft, ist sowohl großartig erzählt als auch wunderbar unterhaltsam, durchaus auch spannend und eines seiner herausragenden Werke.
Walter Moers – Wilde Reise durch die Nacht
Der zwöfljährige Gustave gerät mit seiner Crew der Aventure auf dem Ozean zwischen zwei gefährliche siamesische Zwillingstornados und stirbt. Zumindest fast. Denn plötzlich steht der Tod höchstpersönlich an Deck, im Schlepptau seine verrückte Schwester Dementia, und bietet Gustave einen mehr oder weniger fairen Deal an: er soll sechs Aufgaben lösen, um seine Seele und sein Leben zu retten. Und so macht sich der Junge auf, sein Abenteuer zu bestreiten, das ihn innerhalb einer Nacht auf die Insel der gepeinigten Jungfrauen, quer durch das Universum und die Zeit bis schließlich auf den Mond führen soll, wo der Tod und Dementia ihn in ihrem Haus am Mare Tranquillitatis erwarten.
Walter Moers 2001 erschienener Roman Wilde Reise durch die Nacht ist genau das: ein wildes, kurzes Vergnügen, das seine Leser vollkommen mitreißt. Humorvoll, böse aber auch stellenweise durchaus ernst erzählt der Autor vom höchst unwahrscheinlichen Leben des realen Künstlers Gustave Doré – es ist eine wundervolle Hommage an ebendiesen, an das Fabulieren und an die Phantasie; rasant, packend und völlig absurd bis zur allerletzten Seite.
Weitere Anwärter, die es knapp nicht auf diese Liste geschafft haben, sind Juan Gabriel Vásquez‘ Die Gestalt der Ruinen, Christoph Ransmayrs Atlas eines ängstlichen Mannes, Leigh Bardugos King of Scars, Michel Houellebecqs Elementarteilchen, Christian Krachts Faserland sowie Julian Barnes‘ Die einzige Geschichte.
Welches sind eure Lesehighlights des Jahres?