Christoph Ransmayr – Atlas eines ängstlichen Mannes

Christoph Ransmayr Atlas eines ängstlichen Mannes Rezension

Christoph Ransmayr nimmt seine Leser in Atlas eines ängstlichen Mannes mit auf eine beeindruckende Reise um die Welt, erzählt in poetischer Sprache und ausgeschmückt mit stimmungsvollen Details.

Auf dieser Pirschfahrt hatten wir Buckelwalbullen gesehen, die mit wenigen Flukenschlägen die Gesamtheit ihrer ungeheuren Masse aus dem Wasser katapultierten, dann für einen Augenblick in voller Größe über den Wellen und vor den weißen Wolkenfäusten des Tropenhimmels schwebten, bevor sie in einer Explosion schneeiger Gischt und zerreißender Wasservorhänge wieder ins Meer zurückstürzten.

In siebzig kurzen Episoden, die alle mit den Worten „Ich sah“ beginnen, führt Christoph Ransmayr seine Leser durch die Welt. Er bereist China, Irland, Marokko, Neuseeland, Indien, Bolivien, Laos, Kanada, Japan, Russland, Malaysia, Südafrika, Paraguay, und Tibet, sitzt in Pubs, besteigt Berge, überquert Flüsse, beobachtet den Tod, das Leben, die Liebe. Ob Großstadt oder kleines Dorf, Wüste oder Eis, morbide Karfreitagsprozession oder einsame Stunde auf der Chinesischen Mauer: Ransmayr fängt ganz besondere Momente ein, die großes Fernweh im Leser wecken dürften.

Lae steuerte das Boot auf dem Stromabschnitt zwischen Huay Xai und Luang Prabang allein, aber wenn Gefahren oder Hindernisse die Fahrt bedrohten – felsige Untiefen, Stromschnellen, Strudel oder vom Monsun entwurzelte Bäume, deren Äste sich manchmal wie die Arme ertrinkender Riesen aus der Flut erhoben –, legte sein Vater ihm stets die Hand auf die Schulter, sagte dazu aber kein Wort, gab keinen Rat.

Ein nackter Mann versucht, aus einer griechischen Irrenanstalt auszubüxen, Lachse kehren im kanadischen Ontario an ihre Laichplätze zurück, ein Golfer schlägt am Nordpol achtzehn Bälle gegen den Horizont, eine Riesenschlange kämpft in Brasilien um ihr Leben, ein blinder Mann singt im Mangrovenwald Sumatras bei Blitz und Donner einen Hit der Rolling Stones.

Mit unglaublich detaillierter und poetischer Sprache beschreibt Ransmayr seine Reisen, Erlebnisse und Begegnungen. Man verliert sich in seinen stimmungsvollen Sätzen und wird quasi direkt in die entsprechenden Szenarien hineinversetzt. Besonders gelungen waren für mich anscheinend, wenn ich im Nachhinein meine Zitat-Auswahl betrachte, die Darstellungen von Flüssen, Meeren und jeglicher anderen Art von Wasser – ich scheine aktuell unter großem Meerweh zu leiden.

Das Rauschen des Regens, das auch jetzt, nach einer kaum halbstündigen Unterbrechung, wieder durch das Blattwerk unseres Verstecks am Seeufer drang, war allgegenwärtig. Entlang überfluteter Straßen standen Flamingos in rosafarbenen Paraden, Schlangen suchten Zuflucht in den Häusern, und wenn der Regen manchmal nachließ und eine fahle Sonne in Wolkengebirgen erschien, lagen Krokodile wie gestrandete Einbäume auf Dammkronen, die der Flut bisher standgehalten hatten. Unter Betten und Hängematten rannten Ameisenprozessionen in wirren Strömen dahin, um zu retten, was zu retten war.

Die einzelnen Geschichten ähneln sich ein wenig, vor allem in Aufbau und Rhythmus, sind aber dennoch unterschiedlich genug, um niemals zu langweilen. Ransmayr selbst, als Reisender wie auch als Schriftsteller, tritt in den Hintergrund und überlässt die Bühne ganz der Natur, der Architektur und den Menschen. Mit scharfer Beobachtungsgabe und zärtlichem Blick zeigt er uns die Schönheit und Vielfalt unseres Planeten Erde.

Dort sah ich dann Boot für Boot aus der Flußmündung durch die anrollende Brandung schießen, sah, wie manche der Boote sich von den Brechern lösten, ja aufzufliegen schienen und für einen Augenblick fast senkrecht in der brodelnden Gischt standen, bevor sie in das ruhige Wasser jenseits der Wellenkämme hinabglitten, sah eine farbenprächtige, kühne, triumphierende Flotte auf dem Weg in die Nacht.

Atlas eines ängstlichen Mannes von Christoph Ransmayr ist kein Buch, das man in drei Stunden ausgelesen hat. Man muss sich Zeit nehmen, um jede einzelne Episode, jede malerische Landschaft und jede eigentümliche Begegnung vollkommen auszukosten – erst dann können die wunderschönen, hochpoetischen Reiseberichte des österreichischen Autors ihre volle Wirkung entfalten.

 

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