Carlos Ruiz Zafóns Roman Marina ist eine atmosphärisch dichte und sprachlich exzellent ausgearbeitete Schauergeschichte, die uns erneut in das finstere Herz Barcelonas entführt.
Óscar Drai ist fünfzehn, als er eines späten Nachmittags im Jahr 1979 in ein verlassen wirkendes Haus im Sarriá-Viertel eindringt und so Marina kennenlernt. Das Mädchen, das ihren kranken Vater pflegt und sonst kaum Kontakt zur Außenwelt hat, freundet sich schnell mit Óscar an. Gemeinsam entdecken sie auf dem Friedhof eine geheimnisvolle Dame in Schwarz, die sie beobachten und verfolgen. Als diese ihnen eine mysteriöse Karte mit einem schwarzen Schmetterlingssymbol und dem Namen sowie der Adresse Michail Kolweniks zukommen lässt, versuchen sie, dem Geheimnis nachzugehen – ohne zu ahnen, in welche Gefahr sie sich begeben.
„Manchmal geschehen die realistischsten Dinge nur in der Vorstellung, Óscar“, entgegnete sie. „Wir erinnern uns nur an das, was nie geschehen ist.“
Marina wurde im spanischen Original 1999 veröffentlicht, also zwei Jahre vor Der Schatten des Windes, dem Weltbestseller des Autors, der sein großer internationaler Durchbruch sein sollte. Marina ist ein düsteres Buch, das von Leben und Tod handelt. Im Vordergrund steht zunächst die zart aufkeimende Freundschaft zwischen Óscar und Marina sowie die Detektivarbeit, die die beiden nach Erhalt der Karte Michails Kolweniks leisten. Doch je länger sie sich mit dem Fall beschäftigen und je tiefer sie in die Geschichte hineingeraten, desto gefährlicher wird es: eine Leiche wird mit abgetrennten Händen in der Kanalisation gefunden, ein pensionierter Polizist versucht, ihnen zu helfen und unzählige Wesen, halb Mensch, halb Maschine, sind plötzlich hinter ihnen her.
Wir sind zerbrechliche Wesen, Kreaturen auf Zeit. Was von uns zurückbleibt, sind unsere Taten, das Gute oder Böse, das wir unseresgleichen antun.
Nach und nach entspinnt sich eine Hintergrundgeschichte, die noch viele Jahrzehnte zurückreicht. Sie führt den Leser nach Prag, in ein gruseliges Gewächshaus voller mechanischer Marionetten, tief hinab in ein geheimes Labor in der Kanalisation Barcelonas und in das alte, verlassene Gran Teatre del Liceu. Nicht nur das Leben von Marina und ihrem Vater Germán ist geprägt von Krankheit und dem nahendem Tod, sondern auch das Michail Kolweniks und seiner geliebten Frau, der Opernsängerin Ewa Irinowa. Was ist uns das Leben wert? Sind wir wirklich zum Sterben verdammt oder lässt sich der Tod austricksen? Ein altes Fotoalbum voller Abnormitäten, ein Arzt und Verbündeter Kolweniks und ein mörderischer Eindringling in Óscars Internat: rasant schreitet die Geschichte voran, während man atemlos gemeinsam mit den beiden Jugendlichen durch die Nächte Barcelonas hastet.
In den Worten Zafóns kann man sich verlieren wie in den Gassen Barcelonas – aus jeder Seite kriecht die dunkle, gefahrenvolle Atmosphäre und setzt sich den Lesern geradezu im Nacken fest. Die poetischen, metaphernreichen Beschreibungen des Autors sind absolut Geschmackssache – für mich lassen sie aber die Stadt erst so richtig lebendig werden. Zafón schafft es wie kein zweiter Autor, dass ich alle fünf Minuten neue Straßennamen und Viertel in der Google Bildersuche eingebe, um sie mit den in meiner Phantasie entstandenen Konstrukten zu vergleichen. Leider führt sein Talent des atmosphärischen Schreibens auch dazu, dass ich das Buch manchmal abends im Bett zur Seite legen musste, obwohl ich gerne weiter gelesen hätte – im Dunkeln, mit dem gegen die Fenster peitschenden Wind, waren mir einige Stellen dann doch zu gruselig, so direkt vor dem Einschlafen.
In dieser Nacht erzählte mir Michail, er glaube, das Leben gestehe jedem von uns nur wenige Momente reinen Glücks zu. Manchmal sind es nur Tage oder Wochen. Manchmal Jahre. Alles hängt von unserem Schicksal ab. Die Erinnerung an diese Momente begleitet uns für immer und wird zu einem Land des Gedächtnisses, in das wir im ganzen weiteren Leben umsonst zurückzukehren versuchen. Für mich werden diese Augenblicke immer in dieser ersten Nacht begraben sein, als wir durch die Stadt spazierten.
Auch mit literarischen Bezügen geizt Zafón in diesem Roman nicht. Es gibt zahlreiche Anspielungen auf verschiedene Autoren und Werke, wie zum Beispiel Mary Shelleys Frankenstein, Gaston Leroux‘ Das Phantom der Oper, Bram Stokers Dracula, Thomas Harris‘ Das Schweigen der Lämmer und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Auch wenn Marina gerne als Brücke zwischen Zafóns Jugendbüchern (Der dunkle Wächter, Der Fürst des Nebels, Der Mitternachtspalast) sowie seinen Erwachsenenromanen (Der Schatten des Windes, Das Spiel des Engels, Der Gefangene des Himmels, Das Labyrinth der Lichter) gesehen wird, ist es einer seiner düstersten und brutalsten Romane, der Elemente von Schauergeschichte, Mystery und Horror in sich vereint.
Zwischen Wahnsinn, Horror und Melancholie bewegt sich Carlos Ruiz Zafóns Roman Marina, der für mich neben Der Schatten des Windes und Das Spiel des Engels zu seinen besten drei Büchern gehört. Es ist eine Geschichte, die ihre Leser sowohl sprachlich als auch atmosphärisch gekonnt gefangen nimmt und erst nach knapp 350 Seiten wieder loslässt – schweißgebadet und mit gebrochenem Herzen.
Kommt umgehend auf die Liste – klingt richtig gut. Liebe Grüße, Sabine :)
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