Margaret Atwoods neuster Roman Die Zeuginnen spielt chronologisch nach ihrem Meisterwerk Der Report der Magd – jedoch vor dessen Epilog. Die Leser begleiten drei verschiedene Frauen und lernen durch sie den Staat Gilead, seine Gesellschaft und die Intrigen hinter der Fassade genauer kennen.
„Wir glauben, dass ihr mit euren hohen Qualifikationen geeignet seid, mit uns gemeinsam das beklagenswerte Los der Frau zu verbessern, das durch die dekadente und korrupte Gesellschaftsform verursacht wurde, die wir gerade abschaffen.“
Tante Lydia berichtet, wie sie nach Gilead kam, wie sie verschleppt und gefoltert wurde, um letzten Endes, trotz einiger Verluste, in ihre mächtige Führungsposition aufzusteigen. Gleichzeitig lernen wir Agnes kennen, die sich vehement gegen die sozialen Normen sträubt und unter den vom Staat auferlegten Zwängen leidet, bis sie einen scheinbar akzeptablen Ausweg für sich findet. Außerhalb Gileads, in Kanada, verliert die junge Daisy derweil ihre Eltern bei einem Anschlag und befindet sich zunächst auf der Flucht, unterstützt von der Widerstandsbewegung Mayday.
Auf den ersten Seiten bin ich zugegebenermaßen noch ein wenig mit den drei verschiedenen Erzählperspektiven durcheinander gekommen. Zudem gab es eine Fülle neuer Informationen, die die Geschichte, welche wir aus Der Report der Magd kennen, weiter spinnen und vertiefen. So ganz gefangen nehmen konnte mich der Roman noch nicht, auch wenn direkt in den ersten Kapiteln ein tödlicher Anschlag auf Daisys Eltern verübt wird – ich brauchte erst ein paar Monate Pause, es war noch nicht der richtige Zeitpunkt für Die Zeuginnen und mich.
Terrorregime, sagte man einst, dabei regiert der Terror gar nicht. Er lähmt. Daher die unnatürliche Stille.
Als ich das Buch später wieder begann, war es relativ einfach, wieder einzusteigen, auch wenn die Lektüre des ersten Drittels schon eine Weile her war. Dieses Mal konnte mich die Spannung auch direkt packen, die Intrigen und das Ringen nach Macht innerhalb des totalitären Staates Gilead faszinierten mich völlig. Auch wenn ich ein oder zwei Wendungen weniger überraschend und die beiden jüngeren Protagonistinnen nicht so überzeugend fand, konnte mich der Roman mit seinem hohen Tempo sehr gut unterhalten. Außerdem ist Atwood die Figur der Tante Lydia gut gelungen, die im ersten Teil noch als personifiziertes Böse präsentiert wurde, nun aber mit ihrer Ambivalenz und ihren inneren Kämpfen punkten kann.
Margaret Atwoods Die Zeuginnen ist ein interessanter Roman, der viele Hintergründe über Gileads totalitäres System offenbart, aber natürlich nicht die Klasse seines Vorgängers erreichen kann. Dies liegt unter anderem an dem weniger anspruchsvollen Sprachstil und dem starken Fokus auf Handlung und Action. Wer allerdings darauf eingestellt ist, keinen Vergleich zu ziehen, wird viel Freude an der Lektüre finden.
2019 gewann Atwood für diesen Roman den Booker Prize.