Marieke Lucas Rijneveld – Was man sät

Marieke Lucas Rijneveld Was man sät Rezension

Beeindruckendes Porträt einer zerstörten Jugend: Marieke Lucas Rijnevelds Debütroman Was man sät verstört beim Lesen.

Als die zwölfjährige Jas vor Weihnachten bemerkt, dass ihr Vater ihr Kaninchen mästet, betet sie zu Gott, er solle lieber ihren Bruder als das Kaninchen zu sich holen. Noch am selben Tag ertrinkt ihr Bruder. Für die Familie steht fest, dass es eine Strafe Gottes ist und jeder macht sich selbst Vorwürfe. Gemeinsam mit ihrem Bruder Obbe und ihrer Schwester Hanna verliert sich Jas immer mehr in einer Welt von selbst auferlegten Regeln und Spielen.

Der Debütroman Was man sät von Marieke Lucas Rijneveld geht tief unter die Haut. Er ist von großer Anziehungskraft und gleichzeitig genauso abstoßend. Alles beginnt nur zwei Tage vor Weihnachten, als der älteste Sohn der Familie, Matthies, beim Schlittschuhfahren ertrinkt. Mit ihren drei Geschwistern wächst Jas irgendwo in der niederländischen Provinz auf einem Bauernhof auf. Die Familie ist Teil einer orthodoxen calvinistischen Gemeinde. Der Tod des Bruders verändert das Leben der anderen Familienmitglieder grundlegend.

Manchmal fand ich es komisch, dass es fürs Beten dunkel sein musste. Aber vielleicht war es genauso wie bei meiner Glow-in-the-dark-Bettdecke: Nur wenn es dunkel genug war, leuchteten die Sterne und Planeten und boten Schutz vor der Nacht; so war es bei Gott wohl auch.

Fast scheint es, als würden die Eltern Jas und ihre beiden noch lebenden Geschwister nach dem Tod vergessen. Während der Vater sich den ganzen Tag nur noch um die Kühe kümmert, hört die Mutter auf zu essen. Überall ist der Tote weiterhin präsent: mit dem Kleiderhaken, der immer frei bleiben muss und dem Stuhl, der nicht benutzt wird, aber weiterhin am Küchentisch steht. Unbeachtet von den Eltern verlieren sich die drei Kinder in Spielen und Ritualen, die seltsame Züge annehmen. Jas zieht ihre Jacke nicht mehr aus und so kann niemand bemerken, dass sie sich eine Heftzwecke in den Bauchnabel gestochen hat. Gleichzeitig fungiert sie als Ich-Erzählerin, die die Leser in diese seltsame Welt hineinzieht, in der sich immer mehr Abgründe offenbaren und einem die Luft zum Atmen nehmen. Mit einem poetischen Blick lässt Rijneveld die Zwölfjährige erzählen und in der Sprache offenbart sich immer wieder ihre kindliche Sicht auf ihre Familie und das Geschehen um sie herum.

Mutter lacht. Es ist nicht ihr normales Lachen, sondern das Lachen, wenn sie etwas nicht lustig findet. Das ist verwirrend, aber Erwachsene sind öfter verwirrend, weil ihre Köpfe wie ein Tetris-Spiel funktionieren und alle ihre Sorgen an die richtige Stelle schieben müssen. Wenn es zu viele sind, türmen sie sich auf, und nichts geht mehr. Game over.

Zusätzlich zur Trauer setzten die drei Geschwister sich mit den körperlichen Veränderungen auseinander, die durch ihr Heranwachsen hervorgerufen werden. Doch alles ist mit Schuld und Scham verbunden. Überall lauern die Bibelzitate der Eltern. So bahnt sich die aufkommende Sexualität nur in gewaltsamen Ausbrüchen ihren Weg, wie etwa mit einer Besamungsspritze im Kuhstall. Die Eltern leben nur nach dem Weltbild ihrer Gemeinde, das sich vor allem in Restriktionen äußert, und sind den Kindern weder Hilfe noch versuchen sie, sie zu unterstützen. Eine gemeinsame Trauer um das verlorene Kind oder den verlorenen Bruder findet zu keinem Zeitpunkt statt. Jeder bleibt mit seinen Gefühlen allein. Als Alternative plant Jas in Gedanken mit ihrer Schwester die Flucht aus dem Dorf, dort, „auf der anderen Seite“ würde ihnen vielleicht geholfen werden.

Könnten wir nur unsere Körper von uns selbst befreien, von all dem Makel, der auf uns liegt.

Neben den poetischen Bildern schreibt die Autorin sehr direkt. Jas plagen massive Darmprobleme, die immer wieder zur Sprache kommen, auch die Gewalt und die sexualisierten Spiele sind mit schmerzhafter Drastik geschildert. So nimmt der Roman stellenweise verstörende Züge an. Wer glaubt, dass es doch besser werden muss, wird enttäuscht. Es geht immer noch schlimmer, noch kälter und noch verzweifelter. Einige dieser Schilderungen sind so beiläufig, dass es fast schon schmerzt, wie alltäglich sie für das zwölfjährige Mädchen geworden sind und sie auch in ihrem eigenen Verhalten nichts Außergewöhnliches bemerkt. Die Kinder leben wie in einer eigenen Welt, in der sie selbst die Gesetze bestimmen und es von außen keine Kontrolle mehr gibt – was zu immer mehr Gewalt und Schmerz führt.

Im Verlust finden wir uns selbst und sind, wer wir sind: verletzliche Wesen wie gerupfte Starenjunge, die ab und an nackt aus dem Nest fallen und hoffen, dass sie wieder aufgesammelt werden. Ich weine um die Kühe, ich weine um die drei Könige, aus Mitleid, und dann um das lächerliche, in eine Jacke der Angst gehüllte Selbst, die Tränen rasch wieder wegzukriegen.

Mit Was man sät hat Marieke Lucas Rijneveld keinen erbaulichen oder angenehmen Roman geschrieben. Und so geht es bis zum unausweichlichen Ende. Dabei entwickelt sich ein immer stärkerer Sog beim Lesen, der einen in diese unheilvolle und kranke Familienwelt hineinzieht. Ein Buch voller Abgründe, das sowohl faszinierend als auch bedrückend ist. Wer die Härte der Geschehnisse aushalten kann, wird mit einem außergewöhnlichen Buch belohnt.

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