Michael Köhlmeier – Sunrise

Michael Köhlmeier Sunrise Roman Rezension

Amüsant und gleichzeitig anspruchsvoll. In seiner Novelle Sunrise entwickelt Michael Köhlmeier ein ungewöhnliches Setting und stellt gleichzeitig tiefgehende Fragen.

Der Hollywood-Boulevard in Los Angeles während des Sonnenaufgangs: Der Obdachlose Leo Pomerantz will die Fahrbahn überqueren, die Tänzerin Rita Luna verlässt ein Stripteaselokal, während auf der anderen Straßenseite der Tod steht. Sein Ziel ist Leo, doch die vom Tod geworfene Sichel verfehlt ihn und trifft stattdessen Rita. Die empfindet ihren plötzlichen Tod als ungerecht und will sich damit nicht abfinden, weshalb sie den Tod um eine zweite Chance bittet. Dieser ordnet einen Wettbewerb an. Rita und Leo haben jeweils 30 Minuten Zeit, um ihn davon zu überzeugen, dass ihr letzter Tag noch nicht gekommen ist.

Die Erzählsituation in Michael Köhlmeiers Novelle Sunrise ist typisch für diese Textgattung geteilt in eine Rahmen- und eine Binnenhandlung. Der namenlose Ich-Erzähler befindet sich des Nachts an einer Autobahn, wo er gemeinsam mit Richard auf Mitfahrgelegenheiten wartet. Um ihnen die Zeit zu vertreiben erzählt Richard eine Geschichte. Eben die von Rita und Leo. Der Erzähler ist somit gleichzeitig Zuhörer von Richard. Sunrise besteht viel aus Figurenrede und ist dabei sehr bildlich und visualisierend, so dass es filmisch wirkt. Diese Art des Erzählens passt natürlich sehr gut zum Handlungsschauplatz in Hollywood.

„Über der Stadt hängt Nebel. Kannst du dir das vorstellen? Du kannst es nicht, es ist nämlich dieser verlogene Nebel, der sich aufführt, als wäre er Bewölkung. Der Hochstapler unter den Nebeln. Der Großkotz unter den Nebeln. Ja, man muß das so hart formulieren. Da nützt dir keine Erfahrung, du wirst ihn für Wolken halten, bis zehn Uhr wirst du denken, es sind Wolken heute. Bedeutende Meteorologen haben sich von diesem Nebel hinters Licht führen lassen…Gib doch zu, du kennst Los Angeles gar nicht!“

Und obwohl die Erzählung Richards in Hollywood spielt, sind ihre Protagonisten keine erfolgreichen Stars, die den amerikanischen Traum in der Filmindustrie leben, sondern gesellschaftliche Außenseiter. Leo, obdachlos und alkoholabhängig, hat just an diesem Morgen beschlossen, dass er noch mal neu anfangen will und am Ende des Jahres kein Wrack mehr sein will. Rita Luna ist rein äußerlich das genaue Gegenteil von Leo. Sie ist schön, eine junge Frau, die sowohl bei Männern, als auch bei Frauen beliebt ist, aber als Stripperin arbeiten muss. Zwei Menschen am Rande der Gesellschaft. Ihre Situation wird durch den Fehler des Todes, der mit seiner Sichel Leo verfehlt, nicht einfacher. Rita will das nicht akzeptieren, also müssen beide ihre Geschichten erzählen, damit der Tod eine Entscheidung fällen kann.

In Sunrise zeigen sich kulturelle Vorstellungen vom Tod, Schicksal und Zufall, die hier reflektiert und auch hinterfragt werden. Rita erwartet eine Liste, auf der sie steht, um ihren Tod zu akzeptieren. Der namenlose Ich-Erzähler will keinen einfachen Tod, viel mehr wünscht er sich einen opferungsvollen Heldentod, der dem Ganzen einen tieferen Sinn verleiht. Auch der Tod selbst, der hier als dünne Person auftritt, ist alles andere als übermächtig. Er hat einen schlechten Tag, ist nicht gut in Form und verfehlt sein Ziel. Ein fester Plan, an dem er sich orientiert, scheint ebenso nicht vorhanden zu sein. Von einem Auftraggeber, der ihm sagt, wann wer an der Reihe ist, fehlt jede Spur.

„Aber konstruktiv, nein, also ehrlich, konstruktiv ist der Tod gewiß nicht. Kann der überhaupt etwas machen? Fragen über Fragen, mein lieber Freund. Aber ich verstehe, was du meinst. Was wird er schon machen? Ich sage es dir: Der Tod hört sich das Argumentieren der beiden an, und es ist ihm gleichgültig. Nicht daß es ihm wurscht war, wie man bei euch sagt – ein wirklich idiotisches Wort für egal -, es war ihm gleichgültig. Verstehst du? Beide Argumente, die von Leo Pomerantz und die von Rita Luna, galten ihm gleich viel.“

Ein anderes Thema von Sunrise ist das Erzählen selber, also eine Art Metareflexion, die durchaus ironisch gestaltet ist. Ohne es zu merken lenkt der Ich-Erzähler durch seine Zwischenfragen und Anmerkungen Richards Geschichte in eine Richtung. Beide äußern Ideen und Gedanken, wie denn eine gute und „richtige“ Erzählsituation aussieht und was eine gute Erzählung eigentlich ausmacht. Trotz der eigentlich durchaus ernsten Themen wie Tod, Schicksal, Sinn des Lebens und Zufälle, die das Leben bestimmen, ist Sunrise ein amüsantes Buch. Gerade nach den Auflösungen am Ende erscheint manches zuvor Gesagte in einem neuen Licht. Der Tonfall der Figuren ist dabei häufig ironisch.

Mit seinen knapp 95 Seiten ist Sunrise ein dünnes Buch, das aber nichtsdestotrotz tiefgehende Fragen und Gedanken aufwirft. Gerade durch die ironische Wahl des Settings und den Ton der Figuren ist das Lesen absolut kurzweilig und amüsant, aber gleichzeitig auch spannend. Richard macht den Leser ebenso zum Zuhörer wie den eigentlichen Erzähler. Eine mehr als lesenswerte Novelle.

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