Haruki Murakami – Tanz mit dem Schafsmann

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Callgirls, Mordfälle und ein mysteriöser Schafsmann

Der vierunddreißigjährige namenlose Protagonist ist ein unzufriedener Großstädter, der in Japan lebt und sein Geld mit anspruchslosen journalistischen Aufträgen verdient. Er ist geschieden und lebt ein Leben ohne großartige Vorkommnisse – bis eines Nachts seine ehemalige Geliebte Kiki im Traum nach ihm ruft. Er soll zurück zu dem Ort, an dem sie damals glücklich zusammen waren: Das Hotel Delfin. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass das Hotel nicht mehr das ist, was es einmal war. Doch der wichtigste Bewohner ist geblieben: Der Schafsmann. Seine Botschaft an den jungen Mann ist: „Tanzen, immer weiter tanzen, solange die Musik spielt.“ Und das versucht er auch mit allen Kräften, während Leute aus seinem Leben verschwinden, er verzweifelt nach Kiki sucht und in einen Mordfall verstrickt wird.

Tanz mit dem Schafsmann ist genreübergreifend. Ich habe einen Roman mit fantastischen Elementen (wie man es von Murakami kennt) erwartet, doch es ist so viel mehr als das. Hier vermischen sich Krimi und Mystery mit antikapitalistischer Gesellschaftskritik und modernem Großstadtroman. „Mit traumwandlerischer Sicherheit versteht es der japanische Bestsellerautor, erotische Sehnsüchte in seinen Romanen zum Leben zu erwecken. ‚Tanz mit dem Schafsmann‘ ist eine wunderbar fesselnde Liebesgeschichte…“ lautet die Amazon-Beschreibung. Das kann ich so nicht unterschreiben. Natürlich, Erotik kommt auch ein wenig vor, wie eigentlich in jedem von Murakamis Werken, aber weder die Erotik noch die Liebe treiben das Buch voran, sondern vielmehr der Wunsch des Protagonisten, sich selbst zu finden und die seltsamen Vorfälle aufzulösen, in die er hinein gezogen wird.

Der Hauptcharakter ist wieder einmal ein typischer Murakami. Mitte 30, Single, getrennt bzw. verlassen. Schwimmt gerne, kocht gerne. Hört bevorzugt alte Musik, liest alte Bücher und schaut alte Filme. Hat nicht wirklich Freunde und auch keinen Kontakt zu Familienmitgliedern. Arbeitet gewissenhaft, aber ohne große Freude. Und stolpert plötzlich blindlings in das große Abenteuer. Während man ihn auf seiner Reise begleitet, wächst er einem immer mehr ans Herz. Sein seltsamer Humor, den niemand versteht, bringt einen zum schmunzeln. Seine Entscheidungen mögen zwar nicht immer die richtigen sein, aber man kann sie nachvollziehen. Was würdet ihr denn an seiner Stelle machen? Ich persönlich würde auch tanzen, immer weiter tanzen.

Auch die anderen Charaktere sind alle sehr gelungen: Die exzentrische Künstlerin Ame, die ihre Tochter öfter mal im Hotel vergisst und weiter um die Welt jettet, ohne es zu bemerken. Der perfekte Schönling Gotanda, dem die Oberflächlichkeit der Schauspielbranche zum Hals raushängt. Die dreizehnjährige Yuki, die eine besondere Gabe besitzt und im Protagonisten einen Freund und Vater findet. Und natürlich der Schafsmann. Die Idee fand ich herrlich. Nachdem ich den Titel des Buchs gelesen hatte, stand für mich schon fest, dass ich es haben möchte. Unbedingt. Die Welt, in der der Schafsmann lebt, und die Aufgabe, die er hat, fand ich ebenso interessant wie die Figur an sich. Allgemein haben die übernatürlichen Elemente und die oft auftretende Grauzone zwischen Realität und Traum dazu geführt, dass ich den Roman kaum aus den Händen legen wollte. Auch Murakamis Sprache ist auf gewohnt hohem Niveau. Schon auf den ersten Seiten war ich angetan von den Beschreibungen des Hotels:

Ein ziemlich skurriles Hotel. Es kam mir vor wie eine Sackgasse der Evolution, wie ein genetischer Rückschritt. Eine Missgeburt der Natur, die einige Organismen irreversibel auf die falsche Fährte gebracht hatte. Der evolutionäre Vektor war aufgehoben. Verwaiste Lebensformen kauerten im Dämmerlicht der Geschichte, im Tal der ertrunkenen Zeit. Und niemand war dafür verantwortlich. Keiner trug die Schuld, keiner würde sie erlösen.

Ein Hotel voll unerfüllter Träume, die wie verkrusteter Schlamm in den Ecken klebten.

Ich habe das Buch innerhalb von 3 Tagen durchgelesen, weil es mich so in den Bann gezogen hat. Dennoch kann ich keine 5 Sterne vergeben. Zum einen liegt es daran, dass ich dachte, dass der Roman eine andere Richtung einschlägt. Ich hatte gehofft, viel länger in diese mysteriöse Welt im Hotel Delfin einzutauchen, da sie unglaublich spannend klang. Zum anderen blieben auch einige Dinge für mich ungeklärt, als ich das Buch zuschlug. Ich weiß nicht, ob es vielleicht daran liegt, dass ich Wilde Schafsjagd nicht gelesen habe, das quasi die Vorgeschichte zum Protagonisten, zum Hotel und zu Kiki erzählt. Vielleicht ist es aber auch Murakamis Intention, dass sich nicht alles auflöst und der Leser sich selbst die Arbeit machen muss, alle Fäden zusammenzuspinnen und seiner Fantasie die Macht über das Ende überlässt. Das hat bei mir nämlich nicht ganz funktioniert und so bleibe ich mit einigen (wenigen) Fragezeichen über dem Kopf beeindruckt aber auch ein klein bisschen unbefriedigt zurück.

Vielseitiger Roman zwischen Wirklichkeit und Traum

Insgesamt ist Tanz mit dem Schafsmann ein typisch mitreißender und spannend konstruierter Murakami. Die tolle Sprache und übernatürlichen Elemente entwickeln einen Sog, aus dem man nun schwer entkommen kann. Einziges Manko waren leider ein paar offenen Fragen, die ich am Ende noch hatte und mir nicht beantwortet werden konnten (oder sollten?). Davon sollte man sich allerdings nicht abschrecken lassen – im Gegenteil, wer sich selbst heranwagt, hat so vieles zu entdecken.

4,5sterne

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