Nachdem der September schon ein recht überschaubarer Lesemonat war, ist der Oktober nicht unbedingt stärker, was die Romananzahl betrifft. (Vielen Dank an dieser Stelle an meine Hausarbeit, die geschrieben werden wollte!) Dennoch haben zwei ganz schöne Schinken ihren Weg in unser Bücherregal gefunden sowie ein paar dünnere Buchperlen.
Steffen Mensching – Schermanns Augen
Der Graphologe Rafael Schermann landet als Gefangener in einem russischen Gulag. Da er aus Handschriften Vorhersagen ableiten kann, zieht er sofort viel Aufmerksamkeit auf sich. Der junge deutsche Kommunist Otto fungiert für Schermann als Übersetzer, gemeinsam müssen die beiden im Gefangenenlager ums Überleben kämpfen. Stefan Menschings Roman Schermanns Augen erzählt nicht nur von ihrer Zeit der Gefangenschaft, sondern vor allem von Schermanns Leben, der 1874 geboren wurde und viele bekannte Persönlichkeiten getroffen hat. Das Buch ist unheimlich dicht geschrieben, fordert beim Lesen die volle Aufmerksamkeit und bietet ein Gesellschaftsbild der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Ein großartiger und facettenreicher Roman, der seine Leser lange beschäftigt. Eine Besprechung erfolgt in Kürze.
Tomas Espedal – Bergeners
Der neue Roman von Tomas Espedal ist eine Hommage an seine Heimatstadt Bergen. Die Textformen variieren zwischen lyrischen, essayistischen und beschreibenden Kapiteln. Espedal begibt sich immer wieder an die verschiedensten Orte auf der ganzen Welt, doch letztlich zieht es ihn immer zurück in die Heimat und zu den dort lebenden Menschen. Die Texte berichten von seinen Begegnungen mit Personen und von seinen Erfahrungen in der Fremde. Im Vordergrund steht dabei häufig ein Gefühl von Einsamkeit, gerade nachdem die Tochter ausgezogen ist und die Freundin ihn verlassen hat. Wer seine anderen Bücher kennt, wird einige Passagen wiedererkennen. Insgesamt nicht ganz so stark wie seine anderen Werke, ist Bergeners dennoch ein Buch, das das entstandene Bild von Espedal sinnvoll erweitert und ergänzt.
Nicole Krauss – Waldes Dunkel
Ein reicher New Yorker Anwalt, der einen Großteil seines Vermögens verschenkt und nach Israel reist, um dort eine Stiftung im Namen seiner Eltern zu gründen und eine Journalistin und Autorin, deren Ehe gerade den Bach runtergeht und die in Tel Aviv nach neuen Schreibinspirationen sucht. Nicole Krauss hat sich mit ihrem Roman viel vorgenommen, es taucht Franz Kafka auf, jemand springt vom Balkon, der Anwalt ist eventuell ein Nachfahre von König David, es gibt eine Entführung und eine kafkaeske Verwandlung in der Wüste. Teile des Romans haben mir richtig gut gefallen, vieles war jedoch belanglos – ich habe das Gefühl, dass sich die Autorin etwas übernommen hat und ein kürzerer, klarerer Roman ihr besser getan hätte. Waldes Dunkel haben wir hier schon ausführlich rezensiert.
Christopher Ruocchio – Das Imperium der Stille
In einer weit entfernten Zukunft hat die Menschheit große Teile der Galaxie besiedelt. Einzig die geheimnisvollen Cielcin stehen der Herrschaft im Weg. Der junge Adlige Hadrian Marlowe wehrt sich gegen die Entscheidung seines Vaters und erwacht nach einem jahrelangen Kälteschlaf als Bettler am Rande der Galaxie. Das Debüt des Autors Christopher Ruocchio lebt vor allem von seinem Worldbuilding, das sehr gut durchdacht erscheint und viele Details liefert. Die Geschichte ist dagegen mit über 900 Seiten in die Länge gezogen und wirkt eher wie eine sehr lange Exposition, in der kaum Überraschungen zu finden sind. Den Vergleich mit Patrick Rothfuss‘ Königsmörder-Trilogie, an die Das Imperium der Stille häufig erinnert, kann die Space-Opera daher nicht für sich entscheiden. Zur ausführlichen Rezension gelangt ihr hier.
Leigh Bardugo – Die Sprache der Dornen
Leigh Bardugo, vielen vermutlich durch ihre Dulogie Das Lied der Krähen und Das Gold der Krähen bekannt, hat nun einen Sammelband mit Märchen herausgegeben. Sie nimmt sich teils klassische Vorlagen wie den Nussknacker, Die kleine Meerjungfrau oder Hänsel und Gretel und spinnt aus einem bekannten Ansatz ihre ganz eigenen Geschichten. Die düsteren und atmosphärisch dichten Märchen über dunkle Magie haben mir wahnsinnig gut gefallen, gerade jetzt im Herbst und um Halloween herum. Ich freue mich schon auf Bardugos nächsten Roman, der nächsten Oktober im Original kommen soll, fände es aber vor allem großartig, wenn sie noch weitere Mitternachtsgeschichten schreiben würde.
Haruki Murakami – Die Bäckereiüberfälle (illustriert von Kat Menschik)
Haruki Murakamis Kurzgeschichten Der Bäckereiüberfall und Der zweite Bäckereiüberfall, die beide aus dem Erzählband Der Elefant verschwindet stammen, handeln von Hunger, Überfällen, Wagners Musik und einem möglichen Fluch. Sie sind eher realistisch und humoristisch gehalten als andere von Murakamis Stories. Die bizarre Geschichte hat mir wirklich gut gefallen, besonders der letzte Teil des Buchs ist sehr überraschend. Es kommt aber meiner Meinung nicht an Schlaf und Die unheimliche Bibliothek heran, welche ebenfalls von Kat Menschik illustriert wurden. Die genialen Illustrationen sind wie gewohnt auf höchstem Niveau und machen unheimlich Lust, auch die anderen Werke zu lesen, an denen Menschik mitgearbeitet hat.
Astrid Rosenfeld – Kinder des Zufalls
Astrid Rosenfeld erzählt von zwei Menschen, die durch Zufall zusammengeführt werden und wie füreinander bestimmt erscheinen: Elisabeth kann nach einer Verletzung nicht mehr als Tänzerin arbeiten und Maxwell war jahrelang als Cowboy Jill im Abendprogramm unterwegs und findet nach seinem Bildschirmtod keine neuen Rollen. Neben den beiden steht vor allem die Lebensgeschichte ihrer Mütter im Fokus. Mit viel Tempo und schnellen Schauplatzwechseln berichtet Rosenfeld vom Leben ihrer Figuren, dabei gelingen ihr einige starke Szenen, die aber nicht darüber hinwegtäuschen können, dass es zu viele Handlungsstränge und Figuren für eher wenig Seiten sind. Hier findet ihr eine längere Rezension.