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Von besonderen Begegnungen
In ihrem neuen Erzählband Lettipark berichtet die Autorin Judith Hermann von Begegnungen, häufig nur kurzen Momenten, die ein ganzes Leben verändern. Der Band besteht aus 17 Geschichte, die alle um die zehn Seiten lang sind.
Häufig ist in den Erzählungen weder der genaue Zeitpunkt, noch der genaue Schauplatz des Geschehens klar. Die Protagonisten der verschiedenen Erzählungen stammen aus völlig unterschiedlichen Milieus, wie etwa dem Theater, der Psychiatrie oder auch dem Circus.
Das Thema des Buches, bedeutsame Begegnungen, kommt zum Beispiel in der Titelgeschichte vor. Schauplatz der Handlung ist die Kasse eines Supermarktes, in einem nicht näher genannten Ort. Der Leser erlebt die Handlung aus der Sicht von Rose, welche beim Einkaufen mit ihrem Mann eine alte Bekannte, Elena, sieht. Welches Verhältnis die beiden Frauen früher zueinander hatten, bleibt unklar. Die Verbindung zwischen ihnen entsteht durch Page Shakusky, ein Fotograf, mit dem Elena in der Vergangenheit für kurze Zeit zusammen war und der auch Rose umworben hatte, allerdings erfolglos. Das Wiedersehen von Elena, die früher eine Schönheit war, erinnert Elena wieder an das Werben von Page:
Page Shakusky war eine ganze Weile lang hartnäckig, er lag morgens vor ihrer Tür, wenn sie die Wohnung verließ, er kletterte auf ihren Balkon und wartete, bis sie nach Hause kam, er schrieb ihr unzählige Briefe voller Versprechungen, Schwüre und Anzüglichkeiten. Rose hielt sich die Hände vor die Ohren und machte die Augen zu. Sie war verklemmt und damit beschäftigt, sich im Leben über Wasser zu halten, und sie wusste, dass Page Shakusky eigentlich ganz genauso war, er hatte sich nur eine andere Strategie ausgedacht.
Aber die zufällige Begegnung mit Elena ruft nicht nur die Erinnerung an alte Zeiten und ihre Jugend zurück, sondern lässt Rose ebenso über ihre derzeitige Lebenssituation nachdenken. Das Erinnern veranlasst sie dazu, die Gegenwart zu reflektieren.
In vielen der Erzählungen fällt auf, dass es Figuren gibt, die handeln, und wiederum welche, die das Geschehen passiv beobachten. So zum Beispiel in der Geschichte Solaris. Hier geht es um Ada und Sophia, die während ihrer Ausbildungszeit zusammen wohnen. Jahre später besucht Ada, welche als Fotografin arbeitet, ihre Freundin, die als Schauspielerin eine der Hauptrollen in einer Inszenierung von Solaris spielt. Die ganze Handlung über ist Ada vor allem die stille Beobachterin, was bereits während des Studiums beginnt. Auch beim späteren Wiedersehen ist Sophia diejenige, die die Handlung vorantreibt, obwohl die Erzählung häufig aus der Sicht von Ada dargestellt wird.
Die Geschichten liefern allerdings keine klaren Antworten. Gerade durch die letzten Sätze sind in vielen Fällen verschiedene Auslegungen möglich. Grundsätzlich ist der Stil der Autorin eher einfach und klar. Das heißt aber nicht, dass die Geschichten auch einfach sind – sie sind nämlich eher schwere Kost. Vieles bleibt aber zwischen den Zeilen und muss vom Leser gefunden und in Verbindung gebracht werden.
Erzählungen von unterschiedlicher Qualität
Die Erzählungen in Judith Hermanns neuem Band Lettipark haben mir nicht durchgehend gut gefallen. Die Art der Autorin, den Leser die Bedeutung der Handlung sich selbst erschließen zu lassen hat bei mir nur teilweise funktioniert. Auf der einen Seite sind Geschichten, die ich spannend fand und mir nach dem Lesen überlegt habe, was ihre tiefere Bedeutung sein könnte. Zu diesen Geschichten haben unter anderem Solaris und Kohlen gehört. Auf der anderen Seite haben mich manche Erzählungen, zum Beispiel Mutter, völlig kalt gelassen, so dass sich die knapp zehn Seiten elendig lang zogen und mich die Geschichte nach dem Lesen auch nicht zum Nachdenken angeregt hat. Trotzdem würde ich sagen, dass die Erzählungen lesenswert sind und den Leser größtenteils zum Mitdenken auffordern.