Schlaflos in Wien
An einem Morgen wie jedem erwacht Jonas in Wien. Zunächst ist es ein Tag wie immer: Kaffee zum Frühstück, die Zeitung liegt nicht vor der Tür, was öfters vorkommt. Erst als er im Radio, Fernsehen und Internet keinen Empfang bekommt, beginnt die Irritation. Als er auf die Straße tritt, wird die Ahnung zur Gewissheit – er ist völlig allein. Jonas beginnt, alleine durch Wien zu irren, doch er findet keine Antworten. Ist er der einzige Überlebende einer Katastrophe? Haben die anderen Menschen die Stadt verlassen? Und wie kann ein Mensch alleine leben, wenn alle anderen verschwunden sind?
Der Roman Die Arbeit der Nacht des österreichischen Autors Thomas Glavinic beginnt sehr rätselhaft und ich wollte sofort wissen, was passiert ist und ob es zum Schluss eine Auflösung der geheimnisvollen Geschehnisse gibt. Das Ganze erscheint wie ein Alptraum ohne Erwachen für Jonas, denn eine Erklärung für sein Alleinsein kann er nicht finden. Um der Einsamkeit entgegenzuwirken, beginnt er nach einiger Zeit, Audiokassetten selber zu besprechen und sich selber zufällige Wegbeschreibungen zu unbekannten Orten zu geben, denen er daraufhin folgt. So sorgt er in seiner Einsamkeit dafür, dass trotzdem etwas geschieht. Eine andere Beschäftigung der er nachgeht, ist die Wohnung seiner Kindheit aufzusuchen, wo er versucht, sie in ihren alten Zustand zu versetzen.
Doch was hat es eigentlich mit der titelgebenden Arbeit der Nacht auf sich? Der Beginn eines Kapitels folgt fast immer demselben Muster: Jonas wacht morgens auf und obwohl er geschlafen hat, fühlt er sich müde und erschöpft. Zudem ereignen sich seltsame Dinge, wie etwa, dass eines Morgens ein Messer in einer festen Wand von Jonas Wohnung steckt und er nicht in der Lage ist, dieses wieder herauszuziehen. Die Frage, die sich stellt, ist, ob er denn wirklich geschlafen hat. Denn die Zeit des Schlafens fehlt sowohl Jonas als auch dem Leser. Erst eine Videokamera liefert eine Aufnahme über die Zeit des (vermeintlichen) Schlafs. Und so tritt fortan neben Jonas die Figur des „Schläfers“ auf. Die Beschreibungen des Schläfers habe ich als wirklich unheimlich und öfters auch als gruselig empfunden:
Der Schläfer setzte sich aufrecht auf die Bettkante. Die Arme an den Seiten aufs Bett gestemmt, saß er bewegungslos da. Er schien in die Kamera zu blicken. Das Licht war nicht hell genug, um die Augen inmitten des schwarzen Stoffs zu erkennen. Er saß da. Starr. Auf eine wortlose, ungeheure Weise lag Hohn und Herausforderung in seiner Haltung. Er saß herausfordernd da. Mit seinem schwarzen Kopf. Jonas konnte nicht lange in diese Maske schauen. Er meinte in ein Loch zu blicken, seine Augen ertrugen die Leere nicht, er wandte sich ab. Sah wider hin. Starre. Ein schwarzer Kopf. Lochgesicht. […] Schwarzer Kopf, unbewegter Körper. Er saß da wie ein Toter. Langsam, wie in Zeitlupe hob der Schläfer den rechten Arm. Er streckte den Zeigefinder aus. Reckte ihn in Richtung der Kamera. Verharrte.
Fortan kommt es zu einer Art Kampf zwischen Jonas und dem Schläfer, den eigentlich keiner gewinnen kann. So stellt sich die Frage nach dem Ich von Jonas. Denn er ist der Schläfer, aber der Schläfer ist nicht er.
Neben dem Schläfer spielt Jonas geliebte Marie eine zentrale Rolle. Denn kaum ein Kapitel vergeht, in dem Jonas sich nicht an sie erinnert und aus dieser großen Liebe gelingt es ihm, Kraft und Mut zu ziehen, obwohl es offensichtlich keine Hoffnung auf ein Wiedersehen gibt.
Gerade nachdem ich erst vor kurzem Glavinics Roman Das Leben der Wünsche gelesen habe, fallen mir sofort Parallelen auf. Der Protagonist heißt erneut Jonas und seine große Liebe heißt ebenso wieder Marie. Die Anfangsbedingungen der Romane sind zwar unterschiedlich, aber trotzdem ergeben sich Spiegelungen. In meiner Rezension hatte ich kritisiert, dass der Autor dem Leser keine Auflösung für die Geschehnisse bietet. Nach dem Lesen von Die Arbeit der Nacht habe ich aber den Eindruck, Das Leben der Wünsche deutlich besser zu verstehen. Die Frage nach dem Ich ist zudem ein zentrales Thema in beiden Romanen.
Schaurige Suche nach dem Ich
Insgesamt hat mir Die Arbeit der Nacht sehr gut gefallen. Vor allem die Passagen, in denen der Schläfer vorkommt, sind hervorragend gelungen. Daneben haben mir aber auch die ruhigeren, leicht philosophischen Passagen gut gefallen, die zum Nachdenken anregen.
[…] Thomas Glavinic – Die Arbeit der Nacht (2006) […]
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