Du kannst dich selbst nicht sehen. Du weißt, wie du aussiehst, Spiegeln und Fotos sei Dank, aber wenn du dich draußen in der Welt unter deinen Mitmenschen bewegst, seien es Freunde, Fremde oder die innigst Geliebten, ist dein Gesicht für dich unsichtbar. Du kannst andere Teile von dir sehen, Hände und Füße, Schultern und Oberkörper, aber nur die Vorderseite, nicht die Rückseite, außer der Rückseite deiner Beine, wenn du sie in die richtige Position verdrehst, aber nicht dein Gesicht, nie dein Gesicht, aber letztendlich – zumindest soweit es andere betrifft – ist dein Gesicht doch, wer du bist, die wesentliche Tatsache deiner Identität. Pässe enthalten keine Fotos von Händen und Füßen. Selbst du, der du jetzt vierundsechzig Jahre in deinem Körper lebst, wärst wahrscheinlich nicht in der Lage, deinen Fuß auf einem einzelnen Foto deines Fußes zu erkennen, zu schweigen von deinem Ohr, deinem Ellbogen oder einem deiner Augen in Nahaufnahme. Alles so vertraut im Kontext des Ganzen, aber absolut anonym, wenn es Stück für Stück betrachtet wird. Wir alle sind uns selbst fremd, und wenn wir irgendeine Ahnung haben, wer wir sind, dann nur, weil wir in den Augen anderer leben.
- Paul Auster: Winterjournal.
Eine Erkenntnisreiche Sicht aus einem sehr guten Buch. Toll.
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Wie schön! Ich höre gerade „Winterjournal“ und „Bericht aus dem Inneren“ (wieder) :)
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