Sechs Tage Ausnahmezustand
Als im Jahr 1992 die Polizisten freigesprochen wurden, die Rodney King misshandelten, führte diese Entscheidung in Los Angeles zu heftigen Ausschreitungen, die sechs Tage lang andauerten. Es kam zu Plünderungen, Prügeleien, Brandstiftungen und Morden, erst die Armee und die Nationalgarde konnten die Lage unter Kontrolle bringen. Offiziell gab es 52 Todesopfer und mehr 10 000 Brände sowie Verhaftungen. Doch was passierte während der Ausschreitungen in der Welt der Gangs?
In seinem dokumentarischen Thriller In den Straßen die Wut erzählt Ryan Gattis von den Gangs in Los Angeles, welche die Unruhen für ihre Zwecke ausnutzten. Es war für sie eine Art Carte Blanche, wie ein Protagonist treffend anmerkt. Während die Polizei mit den größtenteils afroamerikanischen Protestierenden beschäftigt war, waren die Latinogangs, die sich nicht an den Ausschreitungen beteiligten, sich mehr oder weniger selbst überlassen. Schätzungen zufolge gibt es in Los Angeles mehrere hundert Gangs mit über 100 000 Mitgliedern.
Das Buch beginnt mit einem brutalen Mord an einem jungen Mann, der eigentlich nicht Teil der Gangwelt ist, aber aufgrund seiner familiären Verbindungen zum Opfer wird. Und der Mord, der Rache für vergangene Taten ist, führt zu neuen Racheaktionen. Aus vielen verschiedenen Ich-Perspektiven erfährt der Leser von den Ereignissen dieser sechs Tage. Der Autor Ryan Gattis hat die Hintergründe in zwei Jahren Arbeit recherchiert und dabei zahlreiche Zeugen, unter anderem Mitglieder von Gangs, befragt. Seine Entscheidung, sich nicht nur auf die Sichtweise dieser Gangs zu beschränken, finde ich sehr gut. So lässt er auch eine Krankenschwester, einen Feuerwehrmann und einen skrupellosen Kommandeur einer Spezialeinheit zu Wort kommen, sowie einige andere Personen, die in die Auseinandersetzungen der Gangs involviert sind. Dadurch ergibt sich ein breit gefächertes Bild, das keineswegs einseitig gerät und mir sehr nahe gegangen ist. Diese Welt der Fehden erscheint sehr düster, voller Wut und ohne Perspektive, denn aussteigen ist kaum möglich. Normalerweise habe ich kaum Probleme mit Gewalt in Romanen, aber hier erschien sie mir so authentisch und direkt, dass ich das Buch manchmal aus der Hand legen musste, um wieder Abstand zu gewinnen. Vor allem der Einstieg, in dem ich als Leser den Mord hautnah miterlebe, ist sehr heftig. Deshalb finde ich es so gut, dass Ryan Gattis sich entschieden hat, auch andere Perspektiven einzubauen. Am besten gefallen hat mir die Geschichte von Jeremy Rubio, einem jungen Sprayer. Seine Sicht auf die Stadt der Engel und seine Chancen in dieser Stadt ist sehr vielschichtig.
Die Straße ist für mich der einzige Weg, meinen Namen in dieser Stadt bekannt zu machen, in der es nur um Bekanntheit geht, um den verfickten Ruhm. In der man nur was gilt, wenn man weiß ist und auf einem Fünf-Meter-Plakat, oder in Filmen oder im Fernsehen. Aber diese Wege stehen mir nicht offen. Ich bin Mexikaner, raza, das versteckte Volk. Versteckt jedenfalls, wenn du nicht gerade Cheech Marin bist, oder dieser Wichser Jimmy Smits von L.A. Law. Für mich interessiert sich kein Schwein. Mein Gesicht wird nie jemand erkennen. Aber ich habe die Buchstaben. Die hab ich. Fünf kleine Buchstaben, und wenn die Leute sie sehen, dann sehen sie irgendwie meine Seele, und sie wissen, der Typ, der das geschrieben hat, der macht keinen Scheiß.
Auch sprachlich bleibt der Autor authentisch. Die Protagonisten sprechen größtenteils sehr derbe und direkt, aber selbst hier gelingt es dem Autor noch die verschiedenen Soziolekte voneinander abzugrenzen, so dass jeder eine eigene Stimme erhält. Dies dürfte in der englischsprachigen Ausgabe noch deutlich besser zum Tragen kommen als in der deutschen Übersetzung.
Hart und authentisch
Die lange Recherchearbeit des Autors hat sich wirklich gelohnt. Das Bild der Vorgänge im Schatten der Unruhen erscheint authentisch. Teilweise ist es mir aufgrund der Gewaltszenen schwer gefallen, lange am Stück zu lesen, aber das macht das Buch natürlich nicht schlechter. Ob es, wie auf dem Cover zu lesen ist, ein Thriller ist, würde ich bezweifeln. Dafür ist es zu dokumentarisch und letztlich gibt es auch keine Auflösung des Ganzen. Die Authentizität und Vielstimmigkeit gibt einem das Gefühl, dabei gewesen zu sein. Kein leichtes Buch, aber ein sehr gutes und lesenswertes.
Weitere Informationen zum Autor findet Ihr hier auf der Seite des Rowohlt Verlags.
Anmerkung: Die große Arbeit von Ryan Gattis hat sich auch dahingehend gelohnt, dass der Roman vom amerikanischen Sender HBO als Serie produziert werden soll. Umgesetzt werden soll es unter anderem in Zusammenarbeit mit Alan Ball, dem Schöpfer von Six Feet Under und True Blood.
[…] Ryan Gattis – In den Straßen die Wut […]
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Ich habe ‚In den Straßen die Wut‘ gerade zu Ende gelesen. Ich bin leidenschaftliche Vielleserin, aber
selten hat mich ein Buch so berührt und nachdenklich gemacht, und auch etwas traurig.
Dieses Buch wird mich noch eine ganze Weile gedanklich beschäftigen.
Danke an den Ryan Gattis.
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[…] dem schlichten Titel Safe ist der zweite Roman von Ryan Gattis erschienen, dessen Erstlingswerk In den Straßen die Wut einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte. Wieder spielt die Geschichte in der Heimatstadt des […]
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