Michelle Steinbeck – Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch

Rezension Michelle Steinbeck mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch

Jungschriftstellerin Michelle Steinbeck hat mit ihrem Debütroman Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch ein Stück (alp)traumhaft-surrealistische Prosa jenseits des Mainstreams geschaffen, die deutlich aus der Masse der Neuerscheinungen heraussticht.

Loribeth, eine junge Frau (oder ein Mädchen?) unbekannten Alters kehrt in ihr Elternhaus zurück – die Mutter ist in einer Anstalt, der Vater lange fort und der kleine Bruder feiert exzessiv mit seinen Freunden im Wohnzimmer. Als sie versehentlich ein spielendes Kind mit einem Bügeleisen tötet, steckt sie es kurzerhand in den alten Koffer ihres Vaters, den sie ihm sowieso zurückbringen wollte. Auf dem Weg zu ihrem Vater, der in der roten Stadt wohnen soll, begegnet sie vielen Personen, Tieren und Gefahren, aber auch der Liebe, und erhält eine Prophezeiung von einer blauhaarigen Wahrsagerin mit einem pelzigen Krokodil auf dem Schoß. Stets das tote Kind im Koffer – oder ist es doch noch am Leben? – lässt Lori sich durch diese völlig verrückte Welt treiben, bis sie endlich ihrem Vater gegenüber steht.

Das Kind glupscht zur Decke hoch, im aufgerissenen Mäulchen glitzern die Milchzähne. In den Locken hat sich eine Staubflocke verfangen. Ich berühre seine Hand. Sie ist kalt. Ich hänge das Kind über die Heizung und setze mich aufs Bett.

Der Debütroman der jungen Schweizer Autorin, dessen Titel alleine schon neugierig macht, schaffte es 2016 sowohl auf die Longlist des Deutschen Buchpreises als auch auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises. Viel Aufmerksamkeit hat er in Deutschland allerdings nicht bekommen, außer, als sich Elke Heidenreich im Schweizer „Literaturclub“ abfällig darüber äußerte. „Verlogen, unehrlich und konstruiert“ nannte sie das Buch und schob hinterher: „Wenn das die junge Generation ist, dann Gnade uns Gott.“ Für Heidenreich undenkbar, dass Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch auf der Long- bzw. Shortlist der beiden Buchpreise gelandet ist – für mich als Literaturwissenschaftlerin gilt das genaue Gegenteil.

Der Roman aus dem Lenos-Verlag ist herrlich abnormal und auf düstere und makabere Art erfrischend. Ein Buch, das man nicht einfach so runterliest und sofort wieder vergisst, sondern eines, über das man nachdenken muss, eines, das den Leser (heraus)fordert. Es fühlt sich an wie ein Anarcho-Punk-Song zwischen all den literarischen Mondscheinsonaten – wunderbar anders. Endlich traut sich wieder jemand was in der deutschen Literatur, endlich wird probiert und herumexperimentiert, gewagt und meiner Meinung nach auch gewonnen.

Im Bett sauge ich an einem Spinatklötzchen. Es schmeckt widerwärtig. Ich schmeisse es dem Kind an den verbeulten Kopf. Dann zerre ich den alten Lederkoffer meines Vaters vom Schrank herunter und schnappe die Verschlüsse auf. Ich schüttle verknitterte Hemden, Mottenpapier und vergilbte Bücher auf den Boden und hieve das Kind in den Koffer.

Die Geschichte, ihre Elemente, Symbolik und Motive sind teils alptraumhaft, sie sind makaber und brutal, absurd und grotesk. Es werden Finger und Ohren verspeist. Menschen und Orte wandeln sich, Zeitsprünge, Ortswechsel, Losgerissenheit von Zeit, Raum und Realität. Die Geschehnisse sind sprunghaft und unzusammenhängend wie ein einzig langer, fieberhafter Traum, aus dem man nicht zu erwachen vermag. Gerade all die skurrilen und surrealistischen Begebenheiten und Bilder haben mich stellenweise an den Film „Ein andalusischer Hund“ („Un Chien Andalou“, 1929) von Luis Buñuel und Salvador Dalí erinnert. Manche Stellen wirken so, als hätte die Autorin ihre merkwürdigsten Träume festgehalten und in die Geschichte eingearbeitet.

Anfangs ist alles noch völlig absurd und verwirrend, man scheint den Sinn hinter all der Symbolik und den surrealen Ereignissen nicht greifen zu können, doch je weiter der Roman voranschreitet, desto öfter blitzt die Realität hervor und desto klarer wird alles. Das Reale nimmt überhand, man beginnt zu verstehen und zu erkennen und all die fleischgewordenen Metaphern geben den Blick frei auf die versteckte Thematik, die schon im Klappentext angedeutet wurde: die Angst davor, sesshaft zu werden, „langweilig“ zu werden. Fear of missing out, das Problem der Generation Y – die Angst davor, etwas zu verpassen und kein lebenswertes Leben mehr zu führen. YOLO, you only live once, und das muss doch ausgenutzt werden, da kann man doch nicht mit Kind und Mann zuhause hocken, während andere feiern gehen und unglaublich viel Spaß haben. Glück wird bei Loribeth gleichgesetzt mit Stagnation, aber dann wohl doch lieber unglücklich sein, als sich nicht fortzubewegen und ewig an diesem einen Punkt festzuhängen.

Es ist so langweilig! Ich will immer woanders sein, nie da, wo ich gerade bin. Aber nützt das, woanders hinzugehen? Ich nehme mich ja immer mit.

Das tote Kind in Loribeths Koffer erscheint immer mehr als eigenes kindliches Selbst, als Teil des Vaters, als nicht erwachsene Person, die immer noch zu sehr unter der Trennung leidet und ihre Vergangenheit und ihren Kummer darüber endlich entsorgen muss, beim Vater abliefern, da, wo das alles hingehört. Auch das Meer nimmt in diesem Roman einen großen Stellenwert ein: als Symbol für das Leben. Schiffbruch erleiden, untergehen, Wellen, die alles umreißen und fortspülen… doch Lori lernt, dass es immer weiter geht, dass sie aufstehen und weitergehen kann und dass das Meer manchmal auch das ein oder andere Positive anschwemmt.

Es rast eine Wand auf mich zu, und diese Wand ist meine Zukunft, sie kommt, viel zu schnell, und erdrückt mich.

Michelle Steinbecks literarisches Debüt Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch ist mutig und experimentell; ein Roman, mit dem wohl nicht viele Leser etwas anfangen können, von dem der Buchmarkt meiner Meinung nach aber definitiv mehr gebrauchen könnte. Auf eine ganz neue und unkonventionell weil surrealistische Weise konfrontiert sie die Leser mit den Ängsten vor dem Erwachsenwerden – Generation Y gefangen in einem Traum von Dalí.

7 comments

Add Yours
  1. ladysmartypants

    Hallo :)
    Von Literaturwissenschaftlerin zu Literaturwissenschaftlerin (ok, eigentlich studiere ich Deutsch auf Lehramt, aber Literaturwissenschaft ist trotzdem ein großer Teil meines Studiums ;) ) muss ich ganz ehrlich zugeben, dass ich solchen Werken kritisch gegenüberstehe. Kritisch in dem Sinn, dass ich keine pauschale Aussage über sie treffen möchte. Denn manche Werke dieser Art kann ich absolut nicht leiden, während andere mich komplett faszinieren und verzaubern. Deine Rezension macht mich neugierig, aber ich müsste trotzdem noch erst etwas hineinlesen, bevor ich das Buch kaufen würde.
    Abgesehen davon hast du wirklich eine tolle Rezension geschrieben, also Hut ab!

    Liebe Grüße,
    Smarty

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    • letusreadsomebooks

      Da hast du natürlich recht! Mir gefällt bei weitem auch nicht alles, oder es gefällt mir an sich, aber ich finde es qualvoll, mich da durchzuarbeiten. Generell bin ich jedoch begeistert, wenn es noch Autoren (aber auch Musiker usw.) gibt, die mutig und experimentierfreudig sind und aus ihre Leser aus der Komfortzone locken und ganz neue Perspektiven ermöglichen. :)

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      • ladysmartypants

        Das stimmt auf jeden Fall, wobei solche Experimente leider nicht immer erfolgreich sind. Wenn man sich am Ende nämlich gar nicht ausgeht und keinen Schimmer hat, worum es in dem Buch ging, ist das für mich weniger erfolgreich (hatte ich leider schon mal).

        Ich wünsch dir frohe Ostern! :)

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      • letusreadsomebooks

        Bei welchem Buch war das? Da hast du mich jetzt doch sehr neugierig gemacht… :D

        Ich erinnere mich gerade, dass ich so ein Problem aber auch mal mit David Marksons „Wittgensteins Mätresse“ hatte. Ich weiß nicht, ob dir das Buch was sagt, aber es geht um eine Frau, die in einer Hütte am Strand lebt und die einzig lebende Person auf der Welt zu sein scheint (oder einfach völlig durchgedreht ist?). In ihrer Erzählweise merkt man die Vereinsamung und den sprachlichen Verfall, theoretisch mega gut umgesetzt, aber mich hat das einfach so aggressiv gemacht, dass ich es fast mehrmals an die Wand geworfen hätte. :D

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