Dystopie trifft Postapokalypse: In Oryx und Crake erkundet Margaret Atwood geschickt und intelligent den von Menschenhand geschaffenen Abgrund, den wir Zukunft nennen. Wollen wir wirklich so leben?
Schneemensch, der eigentlich, in seinem ehemaligen Leben, mal Jimmy hieß, lebt allein auf der Welt. Naja, nicht auf der gesamten Welt, denn allzu weit von seinem Lager hat er sich noch nicht entfernt, und auch nicht ganz allein, denn da sind noch ein paar wilde, gefährliche Tiere und die Kinder Crakes. Sie leben wie Wilde, wie ein eingeborener Stamm aus der vergangenen Zeit, ohne Kleider, mit eingeschränktem Vokabular und ohne jegliche Ahnung von Technologien, denn die gibt es dort nicht, wo sie sich aufhalten. Crake kommuniziert zwar nicht mit Jimmy, dafür aber Oryx – zumindest in seinem Kopf.
Schneemensch öffnet die Augen, schließt sie, öffnet sie, lässt sie offen. Er hat eine schreckliche Nacht hinter sich. Er weiß nicht, was schlimmer ist, eine Vergangenheit, in die er nicht zurückkann, oder eine Gegenwart, die ihn zerstören wird, wenn er sie zu genau betrachtet. Dann die Zukunft. Schwindel erregend.
Warum ist Jimmy alleine? Und wie lange schon – Wochen, Monate, Jahre? Wo sind die anderen normalen Menschen und worin unterscheiden die sich zu den Kindern Crakes, die Jimmy besuchen und ihm Fragen stellen? Wo genau befindet er sich und ist dieser Zustand nur lokal oder global? Kann er wirklich mit Oryx und Crake kommunizieren? Tut er nur so? Bildet er es sich ein? Und wer sind die beiden überhaupt genau?Margaret Atwood wirft direkt zu Beginn des Romans unzählige Fragen auf, die erst sehr spät im Buch beantwortet werden. Dadurch bleiben die Spannung und das Interesse an der Entstehung dieser Situation über den gesamten Roman erhalten.
Abwechselnd berichtet Atwood in Oryx und Crake von Jimmys jetzigem Leben an der Küste und seinem Leben „damals“. Seine Kindheit und Jugend werden in Rückblenden beleuchtet: seine familiäre Situation, der abgeschottete Komplex, in dem er lebte und wie er Crake kennenlernte. Da Jimmys Vater als Wissenschaftler für HelthWyzer tätig war, wohnten sie in einem Haus in dem eingezäunten und komplett abgesicherten Firmenkomplex.
Aus dem Nichts taucht ein Wort auf: mesozoisch. Er kann das Wort sehen, kann es hören, kann es aber nicht erreichen. Er kann nichts damit verbinden. Das passiert ihm ziemlich oft in letzter Zeit, dass Bedeutungen davontreiben, die Einträge in seinen geliebten Wortlisten sich in Luft auflösen.
Solche Komplexe gab es für die Mitarbeiter aller großen Konzerne. Dort lebten die Bewohner vollkommen anders als außerhalb im sogenannten Plebsland. In Plebsland regierten Krankheiten, Gewalt und Überbevölkerung, Hunger, Krisen und Kriege. Die Komplexe jedoch waren eigenständige und isolierte Organismen, es gab dort alles, was man zum Leben brauchte: Ärzte, Schulen, Universitäten, Shopping Malls, Arbeitsplätze. Die Firmen, denen diese abgekapselten Lebensräume gehörten, befassten sich mit dem Fortschritt der Menschheit, sie entwickelten Organschweine und Kreuzungen aus den verschiedensten Tierarten, um den Menschen das Leben noch angenehmer zu gestalten, ebenso alle möglichen Optimierungsformen für den menschlichen Körper. Die Komplexe à la HelthWyzer haben mich sowohl ein wenig an Gilead (Der Report der Magd) als auch an Positron/Consilience (Das Herz kommt zuletzt) erinnert – Atwood scheint in ihren Dystopien ein Faible für Orte zu haben, die von der perfiden, minderwertigen Außenwelt getrennt werden.
„Halt die Wörter fest“, schärft er sich ein. Die sonderbaren Wörter, die alten Wörter, die seltenen Wörter. Karniese. Norne. Gelichter. Lüsternheit. Wenn sie aus seinem Kopf verschwunden sind, sind sie verloren, überall, für immer. Als hätte es sie nie gegeben.
Nach und nach erfährt der Leser mehr über Jimmys Leben und Hintergrund, aber auch, wie sich Crake entwickelt hat und wie die beiden Oryx kennenlernten. Gleichzeitig begleitet er Jimmy aka. Schneemensch auf einen mehrtägigen Fußmarsch aus seinem gewohnten Gebiet hinaus auf der Suche nach Essen, Rückständen von Zivilisation und anderen Menschen wie ihm. Während die Rückblenden noch dystopischer Natur sind, ist Jimmys Gegenwart eher postapokalyptisch einzuordnen. Genmanipulation folgt auf Überlebenskampf. Düstere, heftige Szenen, wie diejenigen, die Oryx‘ Geschichte erzählen, wechseln sich mit spitzem Humor ab.
Atwood verbindet moralische Aspekte der Genforschung, des Menschenhandels, des Eingriffs in die Natur, des Kapitalismus, des Strebens nach Perfektion und Unsterblichkeit sowie der Zerstörung unseres Ökosystems mit den Ängsten um eine untergehende Zivilisation. Klug bewegt sie sich zwischen den Zeiten, der hochtechnologisierten nahen Zukunft und der unzivilisierten fernen Zukunft, welche gar nicht mal so lange auseinander zu liegen scheinen. Ihr ist erneut eine intelligente Zukunftsvision gelungen, die gar nicht so abwegig ist. Auch jetzt beschäftigt sich die Forschung mit dem Klonen von Tieren, sowie der Züchtung menschlicher Körperteile an den Körpern von Mäusen. Warum also keine Schweine, an denen in kürzester Zeit menschliche Organe wachsen (daran wird schon gearbeitet)? Warum keine Schlatten, Kreuzungen aus Schlangen und Ratten, oder Hunölfe – halb Hunde, halb Wölfe, ohne Grund, einfach weil wir es können, ähnlich wie der rosafarbene Minielefant aus Martin Suters Roman?
„Du warst so…du hattest Ideale, früher.“
„Klar“, sagte Jimmys Vater müde. „Ich hab sie immer noch. Ich kann sie mir nur nicht mehr leisten.“
„Was du da machst – diese Schweinehirngeschichte. Du vergreifst dich an den Bausteinen des Lebens. Das ist unmoralisch. Das ist…ein Sakrileg.“
Margaret Atwood hat heute, am 18. November, Geburtstag und ist eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Ihre Romane, Kurzgeschichten und Essays sind klug und mutig, sie warnen uns vor dem, was schon war und dem, was noch passieren kann. Sie hat mit Oryx und Crake vielleicht nicht das Rad neu erfunden, keine bahnbrechenden neuen Einblicke in das Menschsein geliefert und die literarischen Genres Dystopie und Postapokalypse nicht auf den Kopf gestellt, doch sie hat einen wirklich sehr guten Roman erschaffen, der auf hohem Niveau unterhält und uns, wie immer in ihren Werken, unser Dasein und unsere eingeschlagene Richtung hinterfragen lässt.
Margaret Atwood sagte bei der Verleihung des Preises des deutschen Buchhandels: „Geschichten haben es in sich. Sie können das Denken und Fühlen der Menschen verändern – zum Besseren oder zum Schlechteren.“ Also liegt es an uns, etwas aus ihren Romanen zu machen.
Oryx und Crake ist übrigens der erste Teil der Maddaddam-Trilogie. Teil zwei trägt den Namen Das Jahr der Flut, Teil drei Die Geschichte von Zeb.