Han Kang – Die Vegetarierin

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Vorab:

Die Südkoreanerin Han Kang hat für ihren Roman den Man Booker International Prize 2016 gewonnen.

Ich habe The Vegetarian in der englischsprachigen Version gelesen, da ich es einfach nicht mehr abwarten konnte. Somit kann ich die deutsche Übersetzung leider überhaupt nicht beurteilen.

Die Vegetarierin erscheint am 15. August im Aufbau Verlag.

 

Fleischlos in Seoul

Yeong-hye und ihr Mann führen eine belanglose Ehe. Sie heirateten nicht aus Liebe, sondern weil sie den anderen in Ordnung fanden. Beide sind unauffällig und führen eine Beziehung mit klassischer Rollenverteilung: Der Ehemann geht den ganzen Tag arbeiten und kommt oft erst spät nach Hause, Yeong-hye arbeitet nur wenige Stunden und kümmert sich dafür um den Haushalt und vor allem das Abendessen. Eines Nachts steht sie wie ein Geist in der Küche und verbannt jegliche tierischen Produkte aus dem Kühlschrank, während ihr Mann ihr fassungslos zusieht. „Ich hatte einen Traum,“ sagt sie bloß. Immer radikaler ändert Yeong-hye ihren Lebensstil, ihr Gatte verzweifelt derweil eher daran, dass er nur noch Gemüse zu Abend essen darf, als daran, dass seine Frau drastisch an Gewicht und immer mehr den Kontakt zur Realität verliert.

Or perhaps it was simply that things were happening inside her, terrible things, which no one else could even guess at, and thus it was impossible for her to engage with everyday life at the same time.

Han Kangs äußerst kurzer Roman Die Vegetarierin ist in drei Teile gegliedert. Der erste beschreibt Yeong-hyes Konversion zum Vegetarismus aus der Sicht ihres Gatten. Nüchtern beschreibt er die Wandlung seiner Frau und wie diese von außen aufgenommen wird: Bei einem Geschäftsessen wird Yeong-hye äußerst herablassend behandelt und auch beim gemeinsamen Familientreffen reagiert besonders Yeong-hyes Vater erschreckend radikal. Ihr Mann hält in keiner der Situationen zu ihr, er konzentriert sich lieber auf sein eigenes Leid und fragt sich immer wieder, wie er nur mit einer solchen Frau zusammenkommen konnte. Diese Distanz führt allerdings erst recht dazu, dass Yeong-hye sich immer weiter abwärts bewegt in ihrer lebensgefährlichen Spirale des Vegetarismus.

Whether human, animal, or plant, she could not be called a ‚person‘, but then she wasn’t exactly some feral creature either – more like a mysterious being with qualities of both.

Zwischendurch sind einzelne Traumsequenzen und Erinnerungen aus der Sicht Yeong-hyes eingestreut. Sie sind düster, brutal und eklig, aber in all ihrer Verstörtheit auch unglaublich ästhetisch und anziehend. Sie muten fast an wie ein Horrorfilm und haben mir extrem gut gefallen. Ich hätte mir von diesen Traumsequenzen sogar noch einige mehr gewünscht, da sie anders und interessant sind und enorm zur Anziehungskraft des Romans beitragen. In den weiteren beiden Teilen des Buchs wird aus der Perspektive von Yeong-hyes Schwager und ihrer Schwester erzählt. Ist der erste Teil noch wie ein Horrorstreifen, behandelt der zweite die geheimen Triebe und Sehnsüchte. Der dritte Teil ist ziemlich kafkaesk, vieles ist uneindeutig und dem Leser wird enorm viel Raum zur Interpretation gelassen, was ich aber in diesem Fall sehr passend finde.

It’s your body, you can treat it however you please. The only area where you’re free to do just as you like. And even that doesn’t turn out how you wanted.

Han Kang thematisiert unglaublich viel gleichzeitig, sowohl offen als auch zwischen den Zeilen: Vegetarismus, der bis ans Äußerste getrieben wird, das Lossagen von allem tierischen Verhalten und Verlangen, das Abstreifen der menschlichen Fesseln, das Ausbrechen aus patriarchalischen Strukturen und Traditionen, physische und psychische Gewalt innerhalb der Familie, Selbstbestimmung und die Freiheit von äußeren Einflüssen (die Frage: Ist wahre Freiheit nur im Tod möglich?), psychische Erkrankungen und Wahnsinn, ausgelöst durch die familiäre Situation, der Körper als einziger Ort der Zuflucht. In all seiner Kürze ist es ein vielseitiger Roman, aus dem die Leser Verschiedenstes für sich mitnehmen können. Ich war so fasziniert von dem Inhalt und der Art, wie die Autorin diesen vermittelt, dass ich den Roman innerhalb von zwei Tagen durchgelesen habe.

Kurz, andersartig, faszinierend

Han Kang hat mit Die Vegetarierin einen recht knappen, aber sehr gelungenen Roman geschaffen, der oberflächlich ein für uns sehr banales Thema – Vegetarismus – behandelt. Eigentlich geht es aber um viel, viel mehr. Mit klarer, aber teils poetischer Sprache führt uns die Autorin in die Abgründe der menschlichen Seele und lässt uns am Ende mit einigen Fragen und vielen Denkanstößen zurück.

 

5sterne

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