Steffen Mensching – Schermanns Augen

Steffen Mensching Schermanns Augen Rezension

In seinem Roman Schermanns Augen erzählt Steffen Mensching die Geschichte des Graphologen Rafael Schermann zwischen sowjetischen Gulags und Parisern Salons.

Im Jahr 1940 landet Rafael Schermann am Ende der Welt: im Lager Artek, einem sowjetischen Gulag. Schermann, der als Graphologe aus Handschriften Vorhersagen ableiten kann, erzeugt großes Interesse. Nicht nur der Lagerkommandant, sondern auch einige der Mitgefangenen wollen seine Dienste in Anspruch nehmen. Doch der Gefangene behauptet, kein Russisch zu können. Ihm wird der deutsche Kommunist Otto Haferkorn als Übersetzer zur Seite gestellt. Gemeinsam verbringen sie knapp ein Jahr im Lager und kämpfen um ihr Überleben.

Zwölf Jahre Arbeit hat Steffen Mensching in seinen Roman Schermanns Augen gesteckt und das merkt man dem Buch auf jeder Seite an. Es strotz vor zeitgenössischen Namen und Details, die das Gelesene vertiefen und dem Leser Möglichkeiten bieten, selbstständig in andere Richtungen weiter zu forschen und zu entdecken. Angesiedelt ist der Roman im Jahr 1940, also nach der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Pakts, was für den deutschen Gefangenen Otto Haferkorn wohl ein Glück ist. So ist er als angeblicher Trotzkist „nur“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden statt zum Tod. Der junge Kommunist war 1935 vor den Nazis geflohen. Nun trifft er in der Sanitätsbaracke auf den Neuankömmling Rafael Schermann, der so ganz anders ist als die anderen Gefangenen.

Das schlimmste, kaum ertragbare Verhängnis war, wenn ein Gefangener, durch Fahrlässigkeit oder Diebstahl, etwas verlor, das ihn an sein ziviles Vorleben erinnerte, einen Kamm, eine Pfeife, die Fotografie seiner Frau oder Kinder oder ein geliebtes, behütetes Buch.

Haferkorn und Schermann sind die beiden zentralen Figuren des Romans, mit denen der Leser zurück in die Zwanziger- und Dreißigerjahre reist, die einen starken Kontrast zum harten und lebensbedrohlichen Lageralltag bilden. Bei Schermann handelt es sich im Gegensatz zu Haferkorn um eine historische Figur. 1874 wurde er in Krakau geboren, arbeitete in Wien für eine Versicherung, bevor er in den gehobenen Kreisen der Stadt seine Fähigkeiten als Graphologe anbot und so zu einer Attraktion der Zwanzigerjahre wurde. Auch in Berlin fand er Kunden, bevor er 1933 nach der Machtergreifung durch die NSDAP nach Polen floh.

Die Handlung findet dabei nicht nur im Lager statt, das vor allem Haferkorn an seine Grenzen bringt, obwohl er erst ein Jahr inhaftiert ist, sondern ebenso in den Erzählungen Schermanns, die nach Wien, Paris und auf ein Schiff bis New York führen. Bei seiner Arbeit hat er viele bekannte Persönlichkeiten seiner Epoche getroffen und mit ihnen Zeit verbracht. Darunter Adolf Loos, Elke Lasker-Schüler, Sergej Eisenstein, Magnus Hirschfeld, Alfred Döblin und andere. Der Lagerleiter unterstellt ihm, an politischen Intrigen der Trotzkisten beteiligt gewesen zu sein, was zu Verhören führt. In diesen berichtet Schermann von den Orten, die er besucht und den Menschen, die er getroffen hat – eine völlig anderen Welt im Gegensatz zum Gulag.

Ich bin inzwischen sechsundsechzig. Das Leben hat mich verwöhnt, Ruhm, Liebe, Luxus, eine Suite im Waldorf-Astoria, Bilder schmückten die Wände meiner Wohnung, eine private Galerie, Rembrandt, Rubens, van Dyck, Münzen, Glocken, Uhren, kostbare Weine, Reisen, steinreiche, hochgebildete Persönlichkeiten, Dezisoren, Bischöfe, arabische Fürsten hingen an meinen Lippen, als wäre ich Moses oder ein Prophet, Kokoschka hat mich in Öl verewigt, genauso Charlotte Berend, die Gattin von Corinth, die auch Malerin ist, Stadler hat mich gezeichnet, Musils Frau porträtiert, erwarten Sie nicht, dass ich in Ihrem beschissenen Lager um Gnade bettle. Ein schneller Tod ist in dieser Einrichtung quasi eine Auszeichnung.

Diese Erzählungen nutzt Mensching gekonnt, um ein Gesellschaftsbild der Zwanzigerjahre zu zeichnen, dass mit vielen Details und Ausschmückungen geschildert wird. Stilistisch kann er sich ebenso auf der Ebene des rauen Lagerlebens bewegen, wie die vornehmen Sprache der Salons, in denen Schermann verkehrte, wiedergeben. Die vielen historischen Persönlichkeiten geben zudem die Möglichkeit, die Handlung mit Fakten zu unterfüttern. Immer wieder stellt sich die Frage, ob Schermann überhaupt ein zuverlässiger Erzähler ist, oder doch einfach nur ein Hochstapler. So spielt der Roman auch mit den Erwartungen seines Lesers, wenn er sich zwischen Gesellschaftspanorama, Gulag und Schelmenroman bewegt. Dabei sorgt der Autor auch immer wieder für Überraschungsmomente und kann so die Spannung hoch halten.

Es ist eine kaum zu unterschätzende Leistung, die Mensching hier vollbringt, indem er scheinbar Unpassendes zusammenbringt: die intellektuellen Persönlichkeiten mit ihrem Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen Seite und Stalinismus, Kontrolle und Gulag auf der anderen Seite. In Schermanns Berichten wird beides verbunden, ohne das Mensching den Faden verliert, sich zwischen all seinen Themen verläuft oder in Detailverliebtheit abschweift. Der Leser ist hier allerdings dafür auch gefordert mitzudenken, sein Vorwissen einzubringen und die Geschichten miteinander zu verknüpfen. Wer nette und unkomplizierte Unterhaltung sucht, sollte einen weiten Bogen um Schermanns Augen machen.

Weißt du was, sagte der Pole, ich gebe dir einen guten Rat, vergiss diese ganze Gesellschaft, du wirst nie herausfinden, wer wen ausspähte, wer wen auf dem Gewissen hat oder ans Messer lieferte. Sie haben alle geglaubt, es ginge um Vernunft, Wahrheit, Ergebenheit. Alles Unsinn. Es geht nur darum, wer zum richtigen Zeitpunkt den Finger am Abzug hat.

Mit Schermanns Augen hat Mensching einen Roman geschaffen, der dem Leser einiges abverlangt, ihm dafür aber umso mehr zurückgibt. Ein Werk, das sowohl erzählerisch sehr gut gelungen ist, als auch jederzeit die gesellschaftliche Dimension im Blick hat und hier viele Anregungen liefern kann. Das Buch ist jedem absolut zu empfehlen, der sich auf der Suche nach anspruchsvoller Literatur befindet.

Weitere Rezensionen findet ihr bei literaturleuchtet und BUCH-HALTUNG.

 

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