Arno Geiger – Unter der Drachenwand

Arno Geiger Unter der Drachenwand Rezension

Unter der Drachenwand von Arno Geiger erzählt in ruhigen Tönen von den Auswirkungen des Krieges abseits der Kämpfe und dem Ringen darum, das Menschsein zu bewahren.

Der Soldat Veit Kolbe verbringt aufgrund einer Verletzung mehrere Monate am Mondsee. Es ist das Jahr 1944 und der Krieg für Deutschland eigentlich bereits verloren. Doch wie lange dauert es noch, bis wieder Frieden herrscht? In Mondsee trifft Veit auf Margot aus Darmstadt, die erst vor kurzem einen Soldaten geheiratet hat, der sich nun an der Front befindet. Doch noch weiß niemand, wie es weitergehen kann. Veit, seit fünf Jahren in der Armee, ist ausgelaugt und nicht nur körperlich krank. Er weiß nur, dass wenn die Verletzungen verheilt sind, er zurück an die Front muss und somit auch Margot und Mondsee wieder verlassen wird.

In seinem Roman Unter der Drachenwand zeigt Arno Geiger das Leben der Menschen während des letzten Kriegsjahres. Der von einem Granatensplitter verletzte Veit erhält Krankenurlaub. Bei den Eltern in Wien hält er es nach seinen fünf Jahren im Krieg nicht mehr aus. Zu hohl klingen die Überzeugungen für den jungen Mann, der so lange an der Front zugebracht hat. Über seinen Onkel findet er eine Unterkunft in Mondsee. Hier trifft er auf Margot, die aus Darmstadt stammt und nach der Hochzeit mit einem Soldaten gemeinsam mit ihrer Tochter ebenfalls nach Mondsee gezogen ist. Doch Veit ist nicht nur körperlich vom Krieg gezeichnet. Er leidet unter Panikattacken und versucht mit Medikamenten, die grausamen Bilder des Russlandfeldzugs zu unterdrücken. Auch die anderen Figuren des Romans leiden. Unter der Abwesenheit von geliebten Menschen, Angst und dem ungewissen Blick in die Zukunft. Den Durchhalteparolen im Radio schenkt Veit keinen Glauben mehr.

Es ist beängstigend, wie die Zeit vergeht. Ich sehe direkt, wie ich älter werde, ich sehe es an meinem Gesicht. Nur der Krieg bleibt ewig derselbe. Es gibt keine Jahreszeiten mehr, keine Sommeroffensive, keine Winterpause, nur noch Krieg, pausenlos, ohne Abwechslung, es sei denn, man nimmt es als Abwechslung, dass der Krieg sich keine neuen Schlachtfelder mehr sucht, sondern auf seine alten Schlachtfelder zurückkehrt. Der Krieg kehrt immer zurück.

Für Veit ist klar, dass er die Rückkehr zur Armee so lange wie möglich aufschieben will. Schnell lernt er die Lehrerin Grete Bildstein kennen, die sich mit Wiener Mädchen auf Landverschickung befindet. Zu dem Bruder seiner Quartiersfrau, dem ‚Brasilianer‘, baut Veit ein freundschaftliches Verhältnis auf und lauscht den Erzählungen über Südamerika und der fremden Musik. Der ‚Brasilianer‘ verachtet die Ideologie der Nationalsozialisten, ist ein Freigeist und Gärtner und träumt davon, wieder nach Brasilien zurückzukehren. Durch ihn lernt Veit, für das einzustehen, was er für richtig hält und sich das Menschsein zu bewahren. Im Jahr 1944 einfacher gesagt als getan. Zwischen Veit und der Zimmernachbarin aus Darmstadt entwickelt sich zudem eine zarte Liebesgeschichte, die zum Glück nicht kitschig daherkommt. Sie ist mit ihrer Ruhe und Selbstverständlichkeit herrlich natürlich und trotz der starken Anziehungskraft zwischen den beiden schlicht und kommt ohne große Worte aus.

Der Krieg kehrt nicht nur in Veits Erinnerungen und den ständigen Bomberüberfliegen zurück, sondern auch in Form von Perspektiv- und Schauplatzwechseln. So weitet Arno Geiger den Blick von Mondsee auf den Verlauf der Kämpfe während der Jahre 1944/45 aus.  Mithilfe von Briefen von Margots Mutter aus Darmstadt werden die Luftangriffe und ihre Zerstörungen dargestellt, die verzweifelte Suche nach Verwandten, Lebensmitteln und die Hoffnung auf ein Ende der Kampfhandlungen. Andere Briefe stammen von einem Jungen, der an eine der Schülerinnen in Mondsee schreibt. Doch schon bald wird auch er von den Kämpfen erfasst werden. Zusammengehalten wird doch alles von dem Ich-Erzähler Veit Kolbe. Durch ihn erscheint Mondsee fast wie eine Idylle inmitten des herannahenden Krieges. Hier wird auch im Kleinen ein Bild der Gesellschaft mit ihren Gräben gezeichnet. Der Glaube an den ‚Endsieg‘ auf der einen Seite und Kriegsmüdigkeit und Angst vor dem, was nach dem Krieg kommen mag, auf der anderen Seite. Mit der Zeit wird Veit immer misstrauischer beäugt, er sei doch wieder gesund und müsse seine Pflicht tun und für das Vaterland kämpfen. Dabei sind seine Darstellungen sprunghaft. In seine Beschreibungen des Alltags dringen immer wieder die Erfahrungen aus Russland, die Zerstörungen und Gräueltaten. Seine Traumata können auch in Mondsee nicht heilen.

Unter der Drachenwand Arno Geiger Rezension

Bei dem Gedanken, dass die Kinder, das angeblich teuerste Gut des F., jetzt ausbaden sollten, was die verrückten Eltern ausgeheckt hatten, fühlte ich Kälte in mir aufsteigen. Die alten Männer hingegen taten mir nicht leid, sie hatten die Sache von Anfang an unterstützt mit ihrem lauten Jubel anlässlich von Siegesmeldungen, sie hatten die Parade zum Arsch des Propheten jubelnd angeführt, um jetzt überrascht feststellen zu müssen, dass man Kriege nicht am Anfang gewinnt, sondern am Ende.

Veit erweist sich als ruhiger Erzähler. Die Darstellungen seiner wechselnden psychischen Zustände gelingen ihm ebenso, wie die Beobachtungen und Charakterisierungen der anderen Figuren in Mondsee. Das Schreiben seines Tagebuchs stabilisiert und ordnet sein Leben, die Liebe zu Margot gibt ihm neue Hoffnung und den Glauben zurück. War sein Leben vorher nur durch den Krieg bestimmt, wird er in Mondsee erwachsener, reifer, nachdenklicher. Eine Entwicklung die langsam, aber doch Schritt für Schritt, wie selbstverständlich erfolgt.

Doch einer der stärksten Momente des Romans gehört einer scheinbar abgekoppelten Figur: dem Juden Oskar Meyer. Auf der Flucht vor den Nazis wird er von seiner Frau und dem Sohn getrennt. Seine Situation wird mit jedem Tag hoffnungsloser und verzweifelter. Arno Geiger macht es spürbar, wie mit jeder Zeile die Hoffnung immer mehr verschwindet, seine Lage auswegloser wird und er mehr und mehr abstumpft. In Mondsee dagegen der Kontrast, wo scheinbar alles seinen gewohnten Gang geht. Die einen glauben an die Wunderwaffe und den baldigen Sieg, die anderen aus Angst vor den Konsequenzen Mitläufer bleiben und wieder andere nur Dienst nach Vorschrift erledigen. Trotzdem schweben über allem die Angst vor der Zukunft und der Wunsch nach Normalität.

Trotz des Themas und des Zeitpunkts der Handlung ist die Sprache eher schlicht. Fast schon nüchtern und mit einer gewissen Distanz berichtet Veit von dem Alltag in Mondsee. An verschiedenen Stellen bedient sich Veit aber auch einer bildreichen Sprache, die seine Gedanken wiederspiegelt. Auch die Briefe von Margots Mutter sind in einem ähnlichen Tonfall. Anders gehalten sind dagegen die Schreiben von Oskar Meyer. Hier wird versucht, das Leben im Krieg greifbar zu machen. Obwohl der Krieg nicht nach Mondsee kommt, ist er immer in den Menschen präsent. Er ist in ihren Gedanken, beeinflusst ihr Handeln, verursacht Ängste und bestimmt das alltägliche Leben. Neben den Briefen sind immer wieder vorkommende Schrägstriche im Text ein auffälliges Stilmittel. Hier erfolgt beim Lesen ein Bruch, der veranschaulicht, wie schwer es den Figuren fällt, das Erlebte zu verarbeiten und wie sie darum ringen, es in Worte zu fassen.

Die Kindheit ist wie ein Holz, in das Nägel geschlagen werden. Die guten Nägel sind die, die nur so tief im Holz stecken, dass sie halten, sie beschützen einen wie Stacheln. Oder man kann später etwas daran aufhängen. Oder man kann die Nägel herausziehen und wegwerfen. Schlecht sind die ins Holz gedroschenen Nägel, deren Köpfe tiefer liegen als die Oberfläche des Holzes, man sieht gar nicht, dass dort etwas hartes ist, ein vor sich hinrostender Fremdkörper. / Papa hatte die Nägel immer ganz fest ins Holz gedroschen durch ständiges Hämmern auf immer dieselben Stellen. Und dafür erwartete er sich jetzt ein Höchstmaß an Dankbarkeit.

Unter der Drachenwand ist ein Roman, der auf den ersten Blick unspektakulär wirkt. Doch genau das macht dieses Buch auch so lesenswert. Es berichtet davon, mit Traumata umzugehen, dem Versuch einen Alltag herzustellen und einer scheinbar einfachen, aber bedeutsamen Liebe. Ein ruhiges Buch, das sowohl stilistisch, atmosphärisch als auch in seiner Figurenzeichnung beeindruckend ist.

Weitere Informationen zum Autor und seinem Werk findet ihr auf der Homepage des Carl Hanser Verlags.

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  1. Monatsrückblick: Unsere Bücher im März – Letusredsomebooks

    […] Arno Geiger beschäftigt sich in seinem Roman mit dem Leben hinter der Front kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aus verschiedenen Perspektiven und mithilfe unterschiedlicher Darstellungsmittel (Briefe, Tagebücher) entsteht ein eindrucksvolles Bild des schwierigen Alltags. Im Mittelpunkt des mehr als lesenswerten Buches steht der verletzte Soldat Veit Kolbe, der sich auf Heimaturlaub befindet und versucht mit den im Krieg erlittenen Traumata umzugehen. Es ist ein ruhiger Roman, der stilistisch und atmosphärisch aber sehr beeindruckend ist. Zur ausführlichen Rezension geht es hier. […]

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