Der Professor ist ein frühes Werk der belgischen Schriftstellerin Amélie Nothomb. Es ist ein in seiner Groteske sehr unterhaltsamer Roman über die Ambivalenz der Stille und den Verlust des eigenen Ichs.
-Ratten wären mir lieber.
-Mir auch. Gegen Ratten kann man Gift legen, gegen Nachbarn nicht.
Émile und seine Frau Juliette Hazel verschlägt es nach Jahrzehnten in der Großstadt aufs ruhige Land. Nachdem Émile nicht mehr als Latein- und Griechischlehrer arbeitet, suchen sich die beiden ein kleines Häuschen abseits des Trubels. Das nächste Dorf ist einige Kilometer entfernt und im näheren Umkreis befindet sich bloß ein einziges Nachbarshaus. Doch zu früh gefreut. Als der Nachbar Monsieur Bernadin nicht nur ein- oder zweimal, sondern täglich vor der Tür steht, sieht das Ehepaar ihr Glück bedroht.
Juliette und ich, wir wollten endlich die Fünfundsechzig erreichen, wir wollten mit der Zeitverschwendung aufhören, die der Umgang mit anderen Leuten darstellt. Obwohl von Geburt an Großstädter, sehnten wir uns nach dem Leben auf dem Lande, weniger aus Liebe zur Natur als aus dem Bedürfnis, allein zu sein. Dies ist ein zwingendes Bedürfnis, dem Hunger, dem Durst und dem Ekel verwandt.
Der Professor hat mich oft, sehr oft ans Theater denken lassen. Das Setting, der reduzierte Schauplatz (die gesamte Geschichte spielt so gut wie ausschließlich im Haus der Hazels), die Absurditäten und besonders die vielen Szenen, in welchen Émile und Monsieur Bernadin sich im Wohnzimmer gegenüber sitzen, der dicke Nachbar schweigend und Émile Monologe haltend – ich habe mir immer wieder die Geschichte auf einer Schauspielbühne vorstellen müssen, wo sie meiner Meinung nach äußerst gut hinpassen würde.
Aber Schweigen ist nicht gleich Schweigen: Juliettes Schweigen war eine verhüllte Welt voller Verheißungen und von Fabeltieren bevölkert, während das Schweigen meines Besuchers, sobald er in die Diele trat, beklemmend wirkte und sein Gegenüber in ein Stück hilflose Masse verwandelte.
Émilie und Juliette suchen die Einsamkeit und Ruhe, doch das Paradoxe ist, dass sie diese trotz mangelnder Nachbarn nicht finden können. Es ist erstaunlich, dass jemand, der so gut wie kein Wort sagt, dermaßen den Frieden stören kann, aber ich kann Émiles steigende Wut auf Monsieur Bernadin völlig nachvollziehen. Als Leser wird man gemeinsam mit den Hazels von Bernadin in den Wahnsinn getrieben und wird unweigerlich wütend, dass Émile sich so sehr von seiner Höflichkeit und seiner Moral beherrschen lässt. Der enervierte Lehrer im Ruhestand muss endlich die Kontrolle über sich selbst verlieren, um die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen.
In Wahrheit war Monsieur Bernadin nur auf der Welt, um andere anzuöden. Der Beweis ist, dass kein Fünkchen Lebensfreude von ihm ausging. […] Das schlimmste war, dass es ihm nicht mal Vergnügen machte, mich anzuöden. Er schien es sterbenslangweilig zu finden, mich zu langweilen.
Er lässt sich vom penetranten, hochgradig aufdringlichen Nachbarn zur Weißglut treiben, er lässt es zu, dass ein fremder Mensch, über den er so gut wie nichts weiß – wie denn auch, wenn er nie spricht –, sein Verhalten manipuliert, aus seinem Zuhause einen Ort der Angst macht und einige seiner grundlegenden Wesenszüge vollkommen verändert. Bernadin ist ein stummer Terrorist, und es scheint kein Entkommen zu geben. Doch als Émile und Juliette davon erfahren, dass Bernadin eine Frau hat, die scheinbar geistig behindert ist und von ihrem Mann eingesperrt und abgeschottet wird, wollen sie ihr helfen – sie können die arme Frau doch nicht bei diesem Irren lassen!
Nothomb erschafft nicht nur ein äußerst skurriles Szenario sondern auch wirklich merkwürdige Charaktere. Die Beziehung zwischen Émile und Juliette beispielsweise ist recht fragwürdig. Sie sind zusammen, seit sie sechs Jahre alt waren und er liebt auch im hohen Alter noch das sechsjährige Mädchen in ihr und spricht zuweilen von ihr als „meine Tochter“, was ich recht verstörend fand. Auch die Nachbarsgattin Bernadette Bernadin ist ein, nett ausgedrückt, interessanter Charakter. Sie ist extrem fettleibig und wenn sie im Wohnzimmer der Hazels auf dem Kanapee liegt, erinnert sie mich immer wieder an Jabba aus Star Wars (bitte sagt mir, dass ich nicht die Einzige mit diesem Gedanken bin!).
Das Gedächtnis verhält sich wie der Krawattenhändler in der Wüste: „Wasser wollen Sie? Nein, aber hier habe ich eine große Auswahl an Krawatten.“ in unserem Falle hieß es: „Wie entledigt man sich eines Qäulgeists? Keine Ahnung, aber denk doch mal an die schönen Herbstrosen, die dich vor ein paar Jahren so entzückt haben…“
Obwohl es die Stille ist, die die Hazels ihr Leben lang herbeigesehnt haben, ist es auch ebendiese, durch Bernadin verkörpert, die die beiden um den Verstand bringt. Sie haben bekommen was sie wollen, doch die Ruhe und die mangelnde Kommunikation scheinen sie nun zu erdrücken. Émile, der immer sehr zurückhaltend und besonnen war, merkt, wie er sich immer mehr verändert, immer mehr Wut in sich aufbaut und besonders des Nachts Gedanken hat, die ihn selbst erschrecken. Kann sich ein Mensch so sehr von einer anderen Person beeinflussen und ändern lassen? Kann uns der verhasste Nachbar wirklich in den Wahnsinn treiben? Wenn es nach Nothomb geht, schon.
Amélie Nothombs kurzer Roman Der Professor ist vieles: eigenwillig, amüsant, grotesk, politisch nicht immer korrekt, spannend, verstörend, nervtötend. Vor allen Dingen ist es aber ein großer Spaß, dieses Buch zu lesen.
[…] auch in Der Professor gibt es reichlich historische wie mythologische Anspielungen, angefangen bei Saturnines Namen und […]
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