John Burnside – Haus der Stummen

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Sprache und Schweigen

Was geschieht, wenn man Kinder noch vor Spracherwerb von der Außenwelt abschottet? Was geschieht mit sogenannten Wolfskindern, die nicht unter Menschen aufwachsen? Erlernen sie dieselbe Sprache wie wir oder bleiben sie stumm? Wenn sie anfangen zu reden, in welcher Sprache? Hebräisch? Englisch? Liegt das Sprachvermögen in der Natur des Menschen oder ist es etwas, das sich nur in einer Gesellschaft entwickeln kann?

Betrug und Schönheit der Sprache bestehen darin, dass sie das ganze Universum zu ordnen scheint und uns zu der Annahme verführt, wir lebten in Anbetracht eines rationalen Raumes, einer möglichen Harmonie. Doch da Wörter uns von der Gegenwart distanzieren, weshalb wir niemals ganz der Realität der Dinge habhaft werden, machen sie die Vergangenheit zur absoluten Fiktion.

Diese Fragen beschäftigen die Menschen seit jeher: Im 7. Jahrhundert war es der Pharao Psammetich I., der Experimente zum Spracherwerb durchführte, später der Stauferkönig Friedrich II, Jakob IV von Schottland und Jalaluddin Muhammad Akbar. 1932 holten der Psychologe Wayne Dennis und sein Frau knapp einen Monat alte Zwillinge zu sich und sperrten sie in einen Raum im Obergeschoss ihres Hauses. Dieses Experiment erschien in der Fachzeitschrift „Genetic Psychology Monographs“ und war zweifelsohne die Inspiration für Burnsides Werk Haus der Stummen. Einige Jahre vor ihm jedoch wagte sich schon sein amerikanischer Kollege Paul Auster an die Thematik heran und schrieb in Stadt aus Glas (eine Geschichte in der New York Trilogie) von einem Jungen, der von seinem Vater über Jahre hinweg eingesperrt wurde, aber seine eigene Sprache entwickeln konnte, die hauptsächlich aus Geräuschnachahmungen besteht.

Mich verband nichts mit diesen Kreaturen, die in ihren Kellerraum lagen, schrien, sich beschmutzten und an ein Leben klammerten, das ich ohne Weiteres in einem Wasserbecken oder mit einem Stück Schnur beenden konnte.

John Burnsides Protagonist orientiert sich wie gesagt an dem Experiment des Psychologen Dennis, aber natürlich auch an all den anderen mysteriösen Berichten über diese grausame Art der Sprachforschung. Der – bis auf einen einzigen Moment im Roman – namenlos bleibende Ich-Erzähler findet schon in seiner frühen Kindheit erhebliches Interesse an der Geschichte von Akbar dem Großen und diese soll ihn bis ins Erwachsenenalter nicht mehr loslassen. Nachdem er sich immer mehr von der Außenwelt abkapselt und immer morbidere Leidenschaften (wie zum Beispiel das Sezieren von zunächst toten, später jedoch lebendigen Tieren) entwickelt, bietet sich ihm irgendwann die Möglichkeit, selbst ein solches Experiment durchzuführen.

Was ist ein Wissenschaftler? So lautet die wichtigste Frage. Ich rede nicht von jenen Leuten, die sich am Rand der Wissenschaft tummeln und deren Loyalität anderen Mächten gilt, ihrem Heim oder der Familie, dem eigenen Ego oder dem Geschäft. Es gibt Wissenschaftler, die reden von Ethik, verkörpern selbst aber keinesfalls die wahre Ethik ihres Berufsstandes,[…]Ein Wissenschaftler ist der,[…]der sich gänzlich dem Experiment hingibt.

Allein der Einstieg in den Roman ist schon krass: Der Protagonist erzählt direkt auf den ersten Seiten, wie er die Zwillinge, die er für sein Experiment missbrauchte, töten muss. Von da an wird in Rückblenden aus seinem merkwürdigen Leben berichtet. Die fragwürdige Beziehung zu seinen Eltern und die psychopathischen Veranlagungen, die von Jahr zu Jahr schlimmer werden, seine Gewaltphantasien und der tiefe Wunsch, Frauen zu beherrschen, zeichnen das Bild eines krankhaften Mannes. Stellenweise fand ich die Rückblenden wirklich heftig und haben mich zum Teil eher an Täterprofile aus Thrillern erinnert. Burnside schildert brutale, ekelhafte und verstörende Ereignisse, die auf mich allerdings eine große Faszination ausgeübt haben.

Ich wusste nicht, wo die Seele hauste, fürchtete aber plötzlich, dass sie gar nicht im Körper steckte. […]Wenn die Bestandteile des Körpers Sprache und Gedanken waren, dann waren die Bestandteile von Sprache und Gedanke Wörter und Grammatik. Genau das hatte Mutter schon immer behauptet: Ein Geschöpf ohne Sprache ist ein Geschöpf ohne Seele.

Ein wenig schade fand ich es zwar, dass das eigentliche Experiment schnell in den Hintergrund gerät und man nach kurzer Einführung erst wieder auf den letzten 60 Seiten davon erfährt. Dennoch finde ich nicht, dass Burnside sich auf Unwichtiges konzentriert. Ganz im Gegenteil: er schafft ein äußerst interessantes, geradezu fesselndes Porträt eines Psychopathen, der auf der Suche nach der menschlichen Seele und Identität mehr und mehr den Verstand verliert. Zwischendurch wirkt der Protagonist fürsorglich und liebevoll, ja, nahezu menschlich, und man vergisst kurzzeitig, was für ein Monster er eigentlich ist. Burnsides Charakterstudie gewährt genauen Einblick in die kranke Welt des Protagonisten, macht gleichzeitig aber auch dessen Entwicklungen für den Leser nachvollziehbar.

Auch wenn es um die Identität und Sprache eines Menschen sowie die Frage, ob Seele und Sprachvermögen miteinander verbunden sind, geht, steht vor allen Dingen die Stille im Vordergrund. Mit seinen Eltern redete der Erzähler so gut wie nicht, seine Mutter wurde mit den Jahren immer schweigsamer, er ist sozial isoliert und sucht die Stille der Natur, er trifft den stummen Jungen Jeremy und die stumme junge Frau Lillian. Er hasst überflüssiges Gerede und Menschenansammlungen, so scheint es nicht verwunderlich, dass er besessen wird vom Haus der Stummen und seinen Bewohnern.

Verstörende Faszination

John Burnsides Roman Haus der Stummen mutet oft thrillerhaft an. Es ist das Porträt eines Psychopathen, der besessen von Sprache und Schweigen ist und sich in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale befindet. Auch wenn das eigentliche Experiment meiner Meinung nach ruhig noch intensiver hätte beleuchtet werden können, war es doch ein verstörendes und ebenso faszinierendes Erlebnis, dieses Buch zu lesen.

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