Tomas Espedal – Gehen oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen

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Lebenssinn durch Gehen

Ein Mann verlässt seine Familie, sein Haus und entscheidet sich dafür, das Leben eines Landstreichers zu führen. Er beginnt zu gehen, zunächst durch seine Heimat Norwegen, doch seine Wanderungen führen ihn in weitere Länder, sein Weg soll ihn zurück zu sich selbst bringen. Mit nichts außer sich selbst, was bleibt und wer ist man?

Gehen ist das erste Werk des norwegischen Autors Tomas Espedal, das in die deutsche Sprache übersetzt und 2011 veröffentlicht wurde. Es geht um das bewusste wahrnehmen des Augenblicks und über Lebensfreude, ebenso wie negative Lebenserfahrungen. Der Aufbau des Buches erscheint wie ein Tagebuch, gefüllt mit Reiseberichten, persönlichen Gedanken und Anmerkungen zu verschiedenen Schriftstellern und Philosophen. Der Ich-Erzähler, der starke autobiographische Züge aufweist, fühlt sich gefangen in seinem bürgerlichen Leben, er trinkt zu viel, ist unglücklich und entschließt sich einfach zu gehen, um wieder zu sich selbst zu finden.

Wir vergessen. Wir vergessen das Fundamentalste, die Freude darüber, aufzuwachen, in die Küche gehen und ein Glas Wasser trinken zu können. Ein Glas kaltes Wasser! Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst…Dieser Triumph, sich aufzurichten, vom Fußboden, und stehen zu bleiben und zu wanken, diese plötzliche Befähigung und kindliche Freude darüber, von Zimmer zu Zimmer gehen zu könne. Ja, am meisten freut es mich, zu gehen.

Getrieben von der Vorstellung, dass man beim Gehen besser denken kann, lässt der namenlose Mann alles hinter sich und beginnt, nur ausgestattet mit dem Nötigsten, durch Norwegen zu wandern. Unterkunft findet er bei Freunden, hilfsbereiten Fremden oder einfach in der Natur. Draußen auf den Wegen fühlt er sich frei, spürt nicht mehr die Enge des Hauses, in dem er nicht mehr seinem Beruf des Schriftstellers nachgehen konnte. Erst während des Gehens sind sein Kopf und seine Gedanken wieder klar und frei. Trotzdem beschreibt er auch die Probleme, den Verzicht auf Annehmlichkeiten und Luxus und manchmal das Gefühl allein zu sein. Wie lange er unterwegs ist, wird nicht genau benannt, spielt aber auch keine Rolle. Ebenso unklar bleibt die genaue zeitliche Abfolge der Wanderungen. Die Wege des Mannes führen ihn nach Deutschland, Frankreich, England und die Türkei. Er besucht nicht nur schöne Orte in der Natur, sondern findet sich ebenso in Kneipen wieder oder besucht ein Bordell. Dabei ist er nicht immer allein, manchmal wird er begleitet von Freunden, die im Gehen dieselbe Erfüllung suchen. Der ganze Roman fühlt sich entschleunigt und ruhig an. Ob es wie auf dem Cover steht ein Roman im klassischen Sinne ist, ist zumindest fraglich.

Du wirst dein Leben lang mit dir selbst leben. Du kannst eine neue Geliebte finden, du kannst Freunde und Familie verlassen, verreisen, eine neue Stadt und neue Orte finden, du kannst verkaufen, was du besitzt, und dich von allem trennen, was dir nicht passt, aber solange du lebst, wirst du dich nie von dir selber trennen können.

Aber auch wenn er alleine wandert, wird er stets im Geiste von Autoren der Weltliteratur begleitet, die sich in ihren Werken mit dem Gehen und seiner Bedeutung auseinandergesetzt haben. So beschäftigt sich der Mann mit Rousseau, wandelt auf den Spuren von Rimbaud, oder besucht die Berghütte von Martin Heidegger. Doch das Glück findet sich auch manchmal unverhofft in den Begegnungen mit fremden Menschen während der Wanderung durch Europa, sei es das Gespräch mit einer Prostituierten oder nur das Beobachten des Alltags von alten Männern im südlichen Europa. Auch in diesen unscheinbaren Situationen lässt sich Glück finden. Das Buch folgt einem ganz eigenen Rhythmus und beschreibt manchmal einfach nur kleine Augenblicke, die der Ich-Erzähler wahrnimmt und genießt, spart an anderen Stellen aber nicht mit Kritik an modernen Konzepten der Lebensführung.

Wir sind reicher geworden und bauen einfacher, wir sind geizig geworden, lebensgeizig, trotz unseres Reichtums leben wir ärmlich und erbärmlich, er hat uns auf neue Art, auf schlechtere Art arm gemacht. Wir sehen schlechter aus. Zu dick, zu träge, zu müde, unsere Muskeln sind zu schlecht, die Körper verfallen. Die Gesichter auch. Wir sind dicker und schwerfälliger geworden und sehen dümmer aus. Wir kleiden uns einheitlich und uniformiert, wir kleiden uns, wie wir wohnen, angepasst an einen schlechten Geschmack. Wir sehen zu viel fern, lesen zu viele Zeitungen und lassen uns von zu viel Dummheit beeinflussen. Das ist es. Schau dich doch um! Wir verhöhnen die Schönheit. Wir zerstören die Natur, verwüsten die Landschaft. Wir quälen die Tiere und machen uns selbst alles kaputt. Wir sind auf Kosten von etwas und jemanden reich geworden, und das quält mich. Ich schäme mich.

Die Frage, die über allem schwebt ist die nach der richtigen Art zu leben. Espedals Ich-Erzähler entscheidet sich für Verzicht, Rückbesinnung auf sein eigens Ich, sowie Reduzierung und Gelassenheit. Durch die Entscheidung für das Gehen lässt er sein Eigentum zurück und bezieht sich nur noch auf die Bedürfnisse seines Körpers und Geistes. Dass es für den Erzähler das richtige Leben ist, bringt er mit den einfachen Worten „Du bist glücklich, weil du gehst“, zum Ausdruck.

Ich warte auf eine Veränderung, nein, ich warte auf eine Verwandlung, etwa vollkommen Neues – ein neues Leben? Worauf warte ich? Heute beginnt es, das neue Leben, mit neuen Möglichkeiten, es kommt nur darauf an, sich aufzurichten, aufzustehen, den Sand und die Träume abzuschütteln, seinen Anzug anzuziehen und den Rucksack zu schultern, fortzugehen, die offene Straße einzuschlagen.

Eigenwillige aber großartige Reflexion über das Leben

Die Reise und Gedanken von Espedals Erzähler mögen zunächst eigenwillig und unkonventionell erscheinen. Trotzdem habe ich ihn sehr gerne auf seinem Weg begleitet. Natürlich muss ich als Leser nicht alle Ansichten teilen, sie laden aber definitiv zum Nachdenken ein und sind eine Bereicherung.

Der Autor Tomas Espedal ist übrigens befreundet mit Karl Ove Knausgård, gemeinsam haben sie in Bergen in der Schreibkunstakademie beim norwegischen Dramatiker und Schrifsteller Jon Fosse studiert.

5 comments

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    • letusreadsomebooks

      Der Knausgard wartet immer noch auf mich, bis jetzt habe ich mich aber noch nicht dazu durchringen können. Ich finde es aber interessant, dass die beiden befreundet sind und ihre Bücher ähnlich autobiographisch angelegt sind.

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