Roland Schimmelpfennig – An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

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Ein Wolf, der alles verbindet

Ein Wolf wird im Osten Deutschlands gesichtet, erst achtzig Kilometer von Berlin entfernt, dann immer näher an der Stadt. Sein Weg kreuzt den von verschiedenen Menschen: Tomasz, der kaum Deutsch versteht und viel lieber bei seiner Familie in Polen wäre, seine Freundin Agnieszka, die für reiche Leute und in Großraumbüros putzt, ein Mädchen und ein Junge, die von Zuhause weglaufen, der Vater des Jungen, der versucht, seinen Sohn zu finden, Nadine, die die Tagebücher ihrer Mutter verbrennt, die Mutter des Mädchens, die ebenfalls nach Berlin fährt und ihren Exmann trifft, Charly und Jacky, die einen Spätkauf betreiben, und noch einige mehr.

Schimmelpfennigs Schreibstil ist sehr klar und präzise, man könnte es dokumentarisch nennen. Die Sätze lesen sich fast schon wie Regieanweisungen eines Theaterstücks – kein Wunder, da er in erster Linie Dramatiker ist. An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist sein erster und bisher einziger Roman. Kein Wort ist überflüssig, keine Emotion wird in den Text gelegt. So bleiben die Charaktere immer distanziert, eigentlich anonym, obwohl wir ihre Namen kennen und etwas über ihre Vergangenheit wissen. Durch diese distanzierte Sprache bleibt die gesamte Atmosphäre des Romans sehr kalt, der Leser spürt sozusagen bei der Lektüre den „klaren, eiskalten Januarmorgen“ des Titels.

Am nächsten Morgen aßen der Junge und das Mädchen Schnee gegen den Durst. Sie machten sich auf den Weg, aber sie spürten die Anstrengung vom Tag davor, und sie hatten Hunger, sie kamen langsam voran.
Am Rand eines Feldes fanden sie am Fuß der Leiter eines Hochsitzes einen Toten.
Der tote Jäger lag mit offenen Augen auf dem Rücken im Schnee.

In vielen Sagen, Mythen und religiösen Geschichten gilt der Wolf als Unheilsbringer, als Verkörperung des Bösen. Auch bei Schimmelpfennig kündigt die Sichtung des Wolfes unglückliche Ereignisse an, Unfälle, Trennungen, Tode. Aber der Wolf bringt auch das Licht und die Hoffnung: Menschen finden sich wieder, schließen mit ihrer Vergangenheit ab, führen endlich ein besseres Leben. Manch einer wird stärker als andere von der Begegnung mit dem Wolf beeinflusst. Charly wird im übertragenen Sinne selbst zum Wolfsmenschen, er infiziert sich bei ihrer Begegnung mit der Wildheit des Wolfes, ist besessen von ihm. Fortan steuern ihn seine Triebe, Instinkte und der Wunsch, den Wolf zu töten. Seine Dialoge mit Jacky erinnerten mich immer ein wenig an Tarantino-Filme.

„-Charly, was ist mit dir, du bist so nervös.
-Ja, ich weiß auch nicht, ich bin nervös, ich hab das Gefühl, da kommt was, aber ich weiß nicht was, und da ist diese Sache mit dem Wolf, ein Wolf vor Berlin, hier auf dem Foto, achtzig Kilometer vor Berlin, und jetzt sind es vielleicht nur noch sechzig Kilometer oder fünfzig oder vierzig und dann ist er irgendwann hier, stell dir das vor, der kommt von Osten, ich meine, was wäre, wenn? Denk das mal richtig durch, stell dir das mal vor.“

Auch die Einsamkeit spielt in diesem Roman eine große Rolle. Viele der Protagonisten sind einsam, manche trotz Partnerschaft. Tomasz zum Beispiel bekommt Angstzustände, wenn er allein ist, Nadine hat niemanden zum Reden und ist froh, als endlich mal ein Gast vorbei kommt, Icke hat jahrelang vergeblich auf die Rückkehr einer Frau gewartet und ein altes Ehepaar wohnt mutterseelenallein in einem Haus, das um sie herum abgerissen wird.

Klar, kalt, kraftvoll

Trotz der vielen Handlungsstränge passiert eigentlich gar nicht so viel. Es ist ein eher ruhiger Roman, der trotz seiner kargen Sprache eine melancholische und schwermütige Stimmung kreiert. Es ist das Porträt einer unglücklichen Gesellschaft, von Einzelschicksalen, die alle durch den Wolf miteinander verwoben werden. Roland Schimmelpfennig hat mit An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielleicht keinen Pageturner geschaffen, aber einen eindrucksvollen sowie lesenswerten Roman für die kalte Jahreszeit.

 

4sterne

Weitere Informationen zu Roland Schimmelpfennig und seinen Werken findet ihr auf der Seite des Fischer-Verlages.

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