Alles ist verbunden
Sechs Geschichten aus unterschiedlichen Epochen, sechs Einzelschicksale, die doch alle miteinander verbunden sind. In seinem Roman Der Wolkenatlas erzählt David Mitchell von einem amerikanischen Notar, der sich um 1850 auf eine Schiffsreise in die Südsee begibt; von einem jungen Komponisten, der vor seinen Gläubigern nach Belgien zu einem der großen Meister der Klassik flieht und dessen Assistent wird; von einer aufstrebenden Journalistin, die einen Atomskandal aufzudecken versucht; von einem alten Verleger, der von seinem Bruder in ein Sanatorium gesteckt wurde und dort gegen seinen Willen festgehalten wird; von einem koreanischen Klon in der Zukunft, der nicht länger die niederen Dienste verrichten will und sich gegen die Obrigkeit auflehnt; sowie von einem Hirten, der in einer postapokalyptischen Welt in der fernen Zukunft lebt, in der es kaum noch hochentwickelte Zivilisationen gibt.
Der Wolkenatlas ist ein Roman, der wahrlich eindrucksvoll konstruiert ist. Der Titel bezieht sich auf das gleichnamige Musikstück, an dem der junge Komponist Robert Frobisher und sein Mentor arbeiten: ein Sextett, in dem jedes Instrument seinen eigenen Part erhält, erst in der einen und dann in umgekehrter Reihenfolge. Genau so ist auch das Buch aufgebaut. Es beginnt mit dem ¨Pacifiktagebuch¨ des Notars, der Geschichte, die zeitlich gesehen zuerst spielt. Danach folgen die fünf anderen Geschichten, die jeweils nur zur Hälfte erzählt werden, um anschließend andersherum – von der Zukunft bis in die Vergangenheit – beendet zu werden.
Jede einzelne Story hat ihren ganz eigenen Stil. Es gibt Tagebucheinträge, Briefwechsel und ein Verhör. Dazu kommt, dass Mitchell für jede Handlung eine ganz eigene Sprache wählt. Am schwierigsten fand ich den Part über die postapokalyptische, unzivilisierte Welt. Es war sehr ungewohnt, Sätze mit falscher Grammatik und sinnlosen Worten zu lesen und ich fand es anfangs nicht leicht, mich in diesen Stil hineinzufinden. Als ich es dann endlich schaffte, war ich aber begeistert: Der junge, ungebildete Hirte redet ein bisschen wie Mark Twains Huckleberry Finn und spiegelt perfekt den Untergang der Zivilisation wider. Für die meisten Menschen ist es schon kompliziert genug, einen Schreibstil zu finden und ihn konsequent umzusetzen, Mitchell hingegen schafft es, ganze sechs Schreibstile anzuwenden und so jeder Geschichte ihre eigene Note zu geben.
Obwohl alle sechs Teile eigenständige Geschichten sind und ihre eignen Besonderheiten haben, sind doch alle miteinander verwoben. Nach und nach entdeckt man kleine Dinge aus der einen Geschichte in einer anderen – ein Charakter aus einer Story taucht in der nächsten am Rande auf und bestimmte Gegenstände finden im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte neue Besitzer. Außerdem haben alle sechs Protagonisten ein ähnliches Schicksal: Sie kämpfen gegen die Unterdrückung und für ihre individuelle Freiheit. Der Roman ist also nicht nur strukturell unglaublich spannend, sondern kritisiert auch noch die rücksichtslose Profitgier der Menschheit, die die Zeit überdauert.
Zurecht ein internationaler Bestseller
David Mitchell ist mit Der Wolkenatlas etwas ganz Großes gelungen. Er erzählt sechs völlig unterschiedliche und spannende Geschichten und verknüpft sie meisterhaft miteinander. Sprachlich und stilistisch wird einem hier wahnsinnig viel geboten. Der Roman unterhält, kritisiert, belehrt und fesselt auf allerhöchstem Niveau.
Der Wolkenatlas vs. Cloud Atlas – Der Film
Der Roman hat mich wirklich sehr begeistert und deshalb möchte ich euch etwas ans Herz legen. Solltet ihr ihn noch nicht gelesen haben, aber den Film gesehen oder Filmkritiken gelesen haben etc. – vergesst das alles. Schnappt euch das Buch, löscht eure Erinnerungen und fangt noch einmal neu an. Ich habe den Film gesehen kurz nachdem ich das Buch beendet hatte und war ziemlich enttäuscht. Gerade wegen der Schauspieler hatte ich mir eigentlich mehr davon versprochen. Das einzige, was sie wirklich gut umgesetzt haben, ist der Aspekt des Verbundenseins: Deshalb haben in jeder Geschichte dieselben Darsteller die Rollen übernommen, Halle Berry hat zum Beispiel die junge Journalistin gespielt aber auch eine Zivilisierte, die die Insel des Hirten besucht und eine Zeit lang bei ihm lebt. Ansonsten haben sie den Film meiner Meinung nach ganz schön vermurkst, sie haben viele Handlungsstränge verändert und Leute, die nicht den Roman gelesen haben, sehr verwirrt zurückgelassen.
Der Film Cloud Atlas konnte nicht annähernd David Mitchells literarisches Können zeigen, deshalb empfehle ich euch allen – egal, ob ihr den Film gesehen habt oder nicht, ob ihr ihn mochtet oder nicht – lest lieber das Buch.
Hallo :)
Vielen Dank für diese wunderbare Rezension. Schon lange liegt der Wolkenatlas in meinem Regal – ungelesen. Weil ich mich nach dem Film einfach nicht mehr herantraute. Aber jetzt werde ich ihn wohl doch in Angriff nehmen und hoffentlih genauso begeistert sein wie du.
Viele Dank.
Liebe Grüße
Jule
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Das freut mich! Es wäre wirklich schade, wenn dich der Film am Lesen des Romans hindern würde, dann würdest du nämlich wirklich etwas verpassen! Viel Spaß damit :)
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