Emma Donoghue – Das Wunder

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In ihrem neuen Roman Das Wunder entführt Emma Donoghue ihre Leser ins Irland des 19. Jahrhunderts – eine Zeit geprägt von Hunger und Elend und dem Kampf zwischen Glauben, Aberglauben und Wissenschaft.

Irland, Mitte des 19. Jahrhunderts. Die elfjährige Anna O’Donnell hat angeblich seit vier Monaten keinen Bissen Nahrung mehr zu sich genommen. Menschen aus ganz Irland und auch aus dem Ausland reisen nach Athlone, um das kleine Wunder zu bestaunen. Doch es gibt Kritiker, die einen Schwindel vermuten – so wird eine permanente Überwachung des Kindes veranlasst, um jegliche Zweifel aus der Welt zu schaffen. Die englische Krankenschwester Lib Wright, die eher rational-analytisch denkt, wird in dem irischen Dorf mit christlichem Fundamentalismus und purer Ignoranz konfrontiert. Von Anfang an ist sie überzeugt, dass die ganze Sache fingiert ist und wähnt sich in Sicherheit, schon nach wenigen Tagen wieder nach England zurückkehren zu können. Doch Anna bleibt trotz ständiger Beobachtung putzmunter und fromm. Könnte es wirklich möglich sein, dass Anna von Gott auserwählt wurde?

In ihrem Nachwort erklärt Emma Donoghue, dass es tatsächlich überall auf der Welt verteilt sogenannte Fastenmädchen gab. Fast fünfzig Fälle sind zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert dokumentiert – in Nordamerika, Westeuropa und auf den Britischen Inseln. Alle behaupteten, über längere Zeit mit sehr wenig oder gänzlich ohne Nahrung ausgekommen zu sein, manche von ihnen aus religiösen Gründen, andere nicht. Einigen erging es ähnlich wie Anna: sie wurden rund um die Uhr überwacht, um dann endlich des Betrugs überführt zu werden – oder eben zu sterben. Die Faszination mit dieser außergewöhnlichen Thematik veranlasste Donoghue dazu, diesen Roman zu schreiben.

Als ich mit dem Buch begann, hatte ich als Vielleserin phantastischer beziehungsweise magisch-realistischer Literatur eigentlich eine positive Einstellung gegenüber des sogenannten Wunders. Warum nicht?, dachte ich, es könnte ja sein. Doch meine Ansicht traf auf die extrem wissenschaftliche, rationale Attitüde Libs, die gleich von Anfang an eine höhere Macht vollkommen ausschließt und sich absolut sicher ist, dass Anna alle täuscht. Obwohl ich nicht so radikal dachte, habe ich mich schnell von ihr einnehmen lassen und gemeinsam mit ihr eine Vermutung nach der anderen abgearbeitet – ist es Anna, die alle täuscht? Oder doch ihre Magd? Ihre Mutter? Wer steckt mit dem Kind unter einer Decke? Und wer hat sie zum Fasten gebracht? Hatte der Priester seine Finger im Spiel? Auch wenn handlungstechnisch nicht viel geschieht, bleibt der Roman durch all diese Fragen und Verdächtigungen stets spannend.

Nein, ein Dummkopf war sie nicht. Anna hatte ihre fünf Sinne wohl beisammen, nur waren sie auf Abwege geraten.

Emma Donoghue porträtiert ein Irland kurz nach der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts – arm, bäuerlich, hoffnungslos. Nach Jahren des Leidens geht es den Menschen in den ländlicheren Regionen immer noch nicht wirklich gut, es gibt kaum genug Essen und man schickt seine Kinder lieber nach England oder Amerika, wo zumindest die Aussicht auf ein besseres Leben besteht. Auch ein Unmut gegenüber Fremden ist präsent, mit dem Protagonistin Lib stetig konfrontiert wird. Die rurale Bevölkerung ist streng katholisch, ganz anders als im lockeren, protestantischen England. Hier wird noch regelmäßig gebetet und die Kirche besucht – und hier glaubt man an die Macht Gottes, wenn ein elfjähriges Mädchen behauptet, seit Wochen nichts gegessen zu haben.

Glaube trifft auf Aberglaube: Donoghues Charaktere glauben an Feen, stellen ihnen Schälchen voll Milch hin um sie milde zu stimmen. Gleichzeitig sind sie aber teils schon fanatische Christen, die sich von niemandem in ihren Glauben hereinreden lassen und blind sind vor lauter Gottesfürchtigkeit. Selbst wenn es um Menschenleben geht, lassen sie keineswegs an ihrem Glauben rütteln.

„Wie weit würden Sie gehen, um dieses Mädchen zu retten?“
Erst als er die Frage ausgesprochen hatte, wusste sie die Antwort. „Ich werde vor nichts haltmachen.“

Aber auch Themen wie Schuld und Sühne stehen in dem Roman Das Wunder im Mittelpunkt. Wie viel Schuld kann ein Mensch auf sich nehmen, bevor er daran zerbricht? Wo beginnt und endet Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen? Wie können Eltern, Priester und Ärzte es zulassen, dass sich ein unschuldiges Kind zu Tode hungert? Gemeinsam mit Protagonistin Lib steht der Leser immer wieder vor moralischen Herausforderungen und ist schockiert darüber, wie manch ein Dorfbewohner seine Prioritäten setzt. Am liebsten würde man jeden einzelnen von ihnen ob der Vernachlässigung des Mädchens wachrütteln und ohrfeigen.

Obwohl der Roman recht langsam und nüchtern beginnt, sollte man sich davon keinesfalls täuschen lassen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je länger das Mädchen Anna nichts isst, desto emotionaler wird es. Gerade die Beziehung zwischen Lib und Anna ist sehr ergreifend. Während die Krankenschwester anfänglich noch von der „kleinen Betrügerin“ spricht, wächst ihr das Mädchen mit den Tagen immer mehr ans Herz – bis sie schließlich die einzige zu sein scheint, der wirklich etwas am Wohl des Mädchens liegt.

Als Anna immer schwächer wird und Lib dennoch auf völlige Ignoranz in ihrem Umfeld stößt, bricht es einem das Herz. Insbesondere als Details aus Annas Vergangenheit ans Licht kommen, wird die Lektüre immer schwieriger. Die letzten 80 Seiten des Romans musste ich wirklich die Tränen zurückhalten. Donoghue schreibt niemals kitschig oder überbordend gefühlsbetont, aber trotzdem schockiert und berührt einen das Schicksal des Mädchens massiv. Ich bin nur so durch die letzten Seiten geflogen, da ich die ganze Zeit inständig hoffte, dass ein Happy End auf Anna wartet, nach dem sich mein Herz dringend sehnte.

Emma Donoghue hat mit ihrem Roman Das Wunder einen hochinteressantes, beklemmendes und berührendes Stück Literatur geschaffen, das sich um Glaube, Aberglaube, Sünden und Schuld dreht. Besonders die zarte Beziehung zwischen Lib und ihrem Schützling sowie die nicht ganz so leicht zu verdauenden Hintergründe haben mich emotional deutlich mehr mitgenommen, als ich anfangs vermutet hatte. Keine leichte Kost – aber eine großartige Geschichte vor authentischer Kulisse!

11 comments

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  1. Wortfieber

    Wow! Was für eine Rezension und was für ein Buch. Ich habe ja schon beim lesen deiner Rezension hoch emotionale Gefühle gehabt und kann mir gar nicht vorstellen, wie es wird wenn ich das Buch erstmal lese.

    Ich habe es schon mehrmals irgendwo gesichtet, aber ihr habt mich vollkommen überzeugt, das ich dieses Buch lesen möchte.

    Vielen Dank dafür.

    Liebe Grüße, Lana

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      • Lesen... in vollen Zügen

        Ich hatte von ihr „Room“ und „The Sealed Letter“ gelesen. „Room“ habe ich fast schon inhaliert, „Thr Sealed Letter“ war ein historischer Roman der lose auf wahren Begebenheiten basiert ist…. Also eigentlich wie „Wunder“. Und „The Sealed Letter“ war leider Langweile pur!
        Als Lib also in dieses düstere Dorf kommt und erstmal gar nicht richtig ins Gespräch mit den Leuten kommt habe ich mich halt gleich wieder an das andere Buch erinnert gefühlt und befürchtet, daß das jetzt wieder ewig so weitergeht. Aber dann hat es mich ja doch recht schnell in Bann schlagen können.

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  2. Wissenstagebuch

    Ich bin gerade erst durch diese Rezension darauf aufmerksam geworden – was für ein Buch! Über das Irland jener Zeit weiß ich allerdings gar nichts; hilft es der Lektüre, sich vorher einzulesen?
    Viele Grüße
    Jana

    Gefällt 1 Person

    • letusreadsomebooks

      Ja, leider wurde es nicht allzu sehr beachtet, obwohl Donoghues Vorgänger „RAUM“ ziemlich gut bei Bloggern ankam.
      Du wirst ohne Hintergrundinformationen keinen Nachteil haben, aber es ist sowieso eine sehr spannende historische Epoche mit der Hungersnot und der folgenden Emigration – beides Themen, die viel in Büchern irischer Autoren behandelt werden. :)
      Lieben Gruß,
      Nadine

      Gefällt 1 Person

  3. Monatsrückblick: Unsere Bücher im Juni – Letusredsomebooks

    […] Irland im 19. Jahrhundert, kurz nach der großen Hungersnot. Krankenschwester Lib Wright wird aus England in ein irisches Dorf berufen, um dort gemeinsam mit einer Nonne rund um die Uhr ein kleines Mädchen zu bewachen. Anna O’Donnell, elf Jahre alt, hat angeblich seit vier Monaten keinen Bissen mehr gegessen und ist trotz alledem putzmunter. Rational und modern, wie Lib denkt, wettert sie einen Schwindel, den sie schnellstmöglich aufzudecken versucht. Donoghues Roman ist trotz überschaubarer Handlung extrem spannend, gleichzeitig schockierend und rührend. Vor authentischer irisch-ländlicher Kulisse erzählt die Autorin von dem Kampf zwischen fanatischem Glauben und Wissenschaft sowie von der zärtlichen Beziehung zwischen Krankenschwester Lib und ihrem kleinen Schützling. Eine ausführliche Besprechung haben wir hier verfasst. […]

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