Per Petterson – Ich verfluche den Fluss der Zeit

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Per Pettersons Roman Ich verfluche den Fluss der Zeit, erzählt von einer schwierigen Mutter-Sohn-Beziehung, von existenziellen Problemen und davon, wie schwer es ist, die Dinge zu sagen, die am wichtigsten erscheinen.

Im November 1989, als die Mauer fällt, erfährt Arvids Mutter, dass sie an Krebs erkrankt ist. Sie beschließt, einige Tage in ihrer Heimat in einem Ferienhaus auf Jütland zu verbringen. Sie will allein sein, ohne ihren norwegischen Mann und ohne ihre Söhne. Arvid reist ihr nach, er selbst steht kurz vor der Scheidung und war schon immer das Sorgenkind der Mutter. Einzig die Liebe zur Literatur und zu Filmen verbindet die Mutter mit ihrem Sohn.

Das schwierige Verhältnis zwischen Arvid und seiner Mutter tritt bereits während ihrer ersten Begegnung offen zu Tage. Nach ihrer Krebsdiagnose will sie ein paar Tage allein verbringen, doch Arvid reist ihr nach und wird am Strand mit den Worten „Bist du blank?“ begrüßt. Arvid hat in seinem Leben eigentlich nie wirklich etwas auf die Reihe gekriegt, hat lieber als Schichtarbeiter gearbeitet, um der kommunistischen Sache zu dienen, statt ein Stipendium anzunehmen. Seine Rede zum fünfzigsten Geburtstag der Mutter vermasselt er und im Krankenhaus schafft er es nicht, an das Sterbebett des jüngeren Bruders zu treten. In seinen Augen ist er mit seinem Leben gescheitert. Sein Selbstbild schreibt er auch der Mutter zu, die ihm immer stark erschien.

Per Petterson verschwendet keine Zeit, ab der erste Seite nähert er sich in schnörkelloser und klarer Prosa den Problemen der Mutter und Arvid. Sie erhält die Magenkrebsdiagnose, dabei hatte sie als Raucherin immer mit Lungenkrebs gerechnet. Ihre Reaktion darauf: „Was für eine Zeitverschwendung!“ Um Arvids Leben scheint es kaum besser bestellt zu sein. Gemeinsam mit den Töchtern fährt er mit dem Auto durch die Gegend und hört dabei alte Beatles-Songs. Bei der Rückkehr zur Frau und der gemeinsamen Wohnung kneift er die Augen zusammen, um seine Jugendliebe nicht mehr sehen zu müssen: „Es war ohnehin nicht schwer zu erkennen. Sie mochte mich nicht mehr. Sie wollte mich nicht mehr hier haben.“ Oberflächlich betrachtet passiert die ganze Zeit über nicht viel. Arvid reist seiner Mutter nach und erinnert sich an seine Jugend und sein politisches Engagement für den Kommunismus, das seiner Mutter nur ein „Du Idiot!“ entlockte. Andere Rückblenden führen zu weiteren Ereignissen, die das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn so schwierig machen. Bei der Rede zu ihrem fünfzigsten Geburtstag fällt ihm volltrunken nichts ein außer: „Ich kann mich an nichts von dir erinnern.“ Wenigstens jetzt in Jütland versucht er, es ihr Recht zu machen und beschließt, die Kiefer vor dem Ferienhaus zu fällen, wozu sein Vater nicht mehr in Lage ist. Die Anstrengungen lassen ihn das Bewusstsein verlieren, doch er schafft es, den Baum zu fällen, fortschaffen kann er ihn aber nicht und so bleibt er einfach liegen. Den erwarteten Dank der Mutter erfährt Arvid auch nicht, denn „Sie hatte die Kiefer schon vergessen.“

Arvids Gedanken erscheinen melancholisch, fast schon hoffnungslos. Dieser Umstand macht das Lesen nicht einfach. Vor allem ihn dabei zu beobachten, wie er versucht der Mutter beizustehen, obwohl von vornherein klar ist, dass er dazu nicht in der Lage ist. Seine zerrüttete Beziehung zu ihr lässt es überhaupt nicht zu. Außer die Liebe zur Literatur und zu Filmen haben sie so gut wie nichts gemeinsam und ihr Verhältnis ist von Verletzungen geprägt, nicht von glücklichen Momenten. Doch weder er noch sie, schafft es, die Gefühle in Worte zu fassen. Als Leser tut es fast schon weh, an den Gedanken teilhaben zu können und gleichzeitig erleben zu müssen, wie Mutter und Sohn die Worte fehlen, um die begangen Kränkungen anzusprechen. Die Zeit, die Arvid mit der Mutter in Jütland verbringt, beträgt nur knapp zwei Tage. Dazwischen webt Petterson immer wieder die Episoden ein, die zu der Kluft zwischen den beiden geführt hat und zeigen, warum Arvid zu dem Mann geworden ist, der er nun ist. Der Sohn schon fast verzweifelt und hilflos in dem Bemühen, der Mutter zu helfen und ihre Zuneigung zu gewinnen, die Mutter hart und abweisend. Nicht in den Gesprächen entzweien sie sich, sondern in ihrem Handeln. Was beide verbindet, ohne dass sie es wissen, ist das Gefühl, das eigene Leben vertan zu haben.

„[…] aber was das Sterben anging, davor hatte ich Angst. Nicht davor, tot zu sein, das konnte ich mit dem Verstand nicht fassen, das war gleichbedeutend mit nichts sein, und das war vom Verstand her für mich nicht zu begreifen und daher nichts, wovor ich eigentlich Angst hatte, aber das Sterben als solches, das konnte ich fassen, genau die Sekunde, in der du ganz sicher weißt, dass jetzt der Augenblick gekommen ist, vor dem du dich immer gefürchtet hast, in dem du plötzlich verstehst, dass es mit der Chance, genau der zu sein, der du eigentlich sein wolltest, aus und vorbei ist, und dass derjenige, der du warst, genau der sein wird, den die anderen in Erinnerung behalten.“

Per Petterson versucht in Ich verfluche den Fluss der Zeit nicht, das menschliche Verhalten zu verstehen und auszuleuchten, sondern beschreibt es nur anhand einer schwierigen Mutter-Sohn-Beziehung. Durch den traurig-melancholischen Ton der Erzählung ist die Lektüre alles andere als einfach. Die seelischen Schmerzen und die Verzweiflung macht der Autor geradezu spürbar. Wer sich auf das schwierige Thema einlässt, wird mit einem Roman von poetischer Klarheit und inhaltlicher Tiefe belohnt.

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