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Die Suche nach Identität und Erinnerung
Der Name des rätselhaften Fremden, den der Erzähler immer wieder in verschiedenen Städten Europas scheinbar zufällig trifft, ist Jacques Austerlitz. Nach und nach enthüllt sich dessen Lebensgeschichte, der in London lebt. Austerlitz ist aber kein Engländer, sondern ist als jüdisches Flüchtlingskind nach Wales in eine Pflegefamilie gekommen. Er wächst bei einem Prediger und dessen Frau heran und erfährt erst Jahre später seine wahre Herkunft, die erklärt, warum Austerlitz sich immer als Fremder unter Menschen fühlt.
Mit Austerlitz hat der bei einem Autounfall verstorbene W. G. Sebald einen sehr außergewöhnlichen Roman geschaffen. Der Leser begleitet Austerlitz auf seiner Suche nach seiner Herkunft quer durch Europa und dessen jüngeren Geschichte. Eine wichtige Rolle im Roman nehmen immer wieder Bauwerke und deren Architektur wie Bahnhöfe, Festungen oder Bibliotheken ein, die sehr detailreich und ausufernd beschrieben werden. Diese Bauwerke rufen bei Austerlitz Gefühle hervor und lassen ihn nach dem Kontext ihrer Entstehungsgeschichte fragen. An verschiedenen Stellen sind Fotografien abgedruckt, die wunderbar die oft melancholische Stimmung einfangen und sich gut in den Text einfügen. Im Mittelpunkt steht aber die Figur von Jaques Austerlitz, die zunächst einen sehr rätselhaften Eindruck macht. Von einem calvinistischen Prediger erzogen, arbeitete er später als Kunsthistoriker in London. Dabei scheint er mit seiner eigentümlichen Kleidung und seiner kultivierten Art aus der Zeit gefallen zu sein. Immer wieder sind es verschiedene Orte, die seine Erinnerung beflügeln und ihn dazu ermutigen, sich auf die Suche nach seiner Herkunft und Identität zu machen.
Neben der außergewöhnlichen Geschichte ist es aber auch die Sprache, die dieses Buch zu etwas Besonderem macht. Es wird aus einer scheinbar seltsamen Perspektive erzählt: Ein namenloser Ich-Erzähler gibt in indirekter Rede das Gesprochene von Austerlitz wider. Die Sätze sind häufig eine halbe Seite oder länger und erschließen sich nicht immer beim ersten Lesen. Die gewählte Sprache ist ruhig und rhythmisch. Die detailreichen Beschreibungen der Bauwerke lassen diese vor dem inneren Auge lebendig werden. All das macht es dem Leser nicht immer einfach, dem Geschehen und den Darstellungen zu folgen und erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Wer sich nicht auf die Geschichte und den Stil einlässt, wird nur wenig Freude an diesem Buch haben.
Ein moderner Klassiker
Sebalds Austerlitz gilt zu Recht als moderner Klassiker. Ich kenne nur wenige deutsche Autoren, die so virtuos und schön schreiben können und dabei auch eine spannende Geschichte quer durch Europa erzählen. Interessierten kann ich nur empfehlen, sich Zeit zu nehmen und sich auf die Herausforderung einzulassen, die dieses Buch an sie stellt. Es lohnt sich!