Fernanda Melchors neuer Roman Paradais ist ein sprachlich wie atmosphärisch großartiger Roman über Frauenhass und Klassenunterschiede und festigt ihre Position als eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen Mexikos.
Polo ist 16, hat keinen Schulabschluss und arbeitet als Gärtner in der Luxus-Wohnanlage „Paradais“. Doch ein Paradies ist es für den Jungen bei weitem nicht: Um seiner anstrengenden Mutter und seiner hochschwangeren Cousine zu entkommen, betrinkt er sich jeden Abend mit einem der Bewohner, Franco. Dieser hat ein Auge auf die wesentlich ältere und extrem attraktive Señora Marián geworfen, von der er geradezu besessen ist. Jeden Tag erträgt Polo Francos ekelhafte und brutale Fantasien, nur um seinem eigenen trostlosen Leben für ein paar weitere Stunden zu entfliehen – bis aus Francos Fantasien Realität wird.
Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen. An allem war Franco Andrade schuld, mit seiner Versessenheit auf Señora Marián. Polo hatte nur getan, was der Dicke ihm gesagt hatte, seine Befehle ausgeführt. So verrückt war der nach der Frau, Polo hatte das Gefühl, der Typ redete seit Wochen von nichts anderem, als dass er sie um jeden Preis vögeln wollte; ohne Ende dieselbe Leier […]. So fick ich die, stammelte er, nachdem er sich am Rand des Stegs schwankend aufgerichtet hatte; erst pack ich sie so, dann dreh ich sie auf den Bauch und bumse sie richtig von hinten durch, dabei wischte er sich mit dem Handrücken den Sabber vom Mund […].
Fernanda Melchor ist eine Autorin, die es auf beeindruckende Weise schafft, nicht nur das patriarchale System in Mexiko, sondern auch die Trostlosigkeit und Armut sowie die Perspektivlosigkeit der jungen Leute atmosphärisch einzufangen. Ihre Romane sind eine Essenz dessen, was sich in der heutigen mexikanischen Gesellschaft abspielt – sie legt ihre feine Lupe, ganz ohne jeglichen Filter, über die aktuellen Probleme, die Wut, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit.
Wie auch schon in ihrem vorherigen Werk Saison der Wirbelstürme stehen in Paradais patriarchale Strukturen und Denkweisen hier im Vordergrund. Frauenhass, toxische Männlichkeit, Sexualisierung und Objektifizierung sind für die männlichen Figuren an der Tagesordnung. Dabei werden jegliche von der Gesellschaft als weiblich konstruierte Eigenschaften geradezu verachtend abgewertet. Auch wenn Franco durch die Augen unseres Erzählers als wahres Ungeheuer präsentiert wird, ist auch Polo kein wirklicher Sympathieträger. Nach und nach lernen wir zwar teilweise, wieso er so denkt und handelt wie er es tut, doch das macht seine eigenen frauen- und schwulenfeindlichen Aussagen sowie Fatshaming-Auswüchse nicht erträglicher.
Der Junge, wie die Bewohner der Anlage ihn nannten, das war er. Der Rasenmäher, der Aststutzer, der Scheißeaufklauber, der Autowäscher, der kleine Trottel, der gelaufen kam – wie ein Hund, wenn die Arschlöcher nach ihm pfiffen. Wie war er an diesen Punkt seines Lebens gelangt?, fragte er sich, doch er hatte keine Antwort. Und wie zum Teufel würde er entkommen?
Was in diesem Roman deutlich eingehender als im Vorgänger beleuchtet wird, sind die Klassenunterschiede im Land. Polo, der als Sohn eines Dienstmädchens aus armen Verhältnissen kommt, schuftet Tag und Nacht für ein mickriges Gehalt, während diejenigen, deren Müll er wegräumt und deren Pools er reinigt, im Luxus schwelgen – wie zum Beispiel Franco, der hier bei seinen Großeltern logiert. Die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten sind enorm präsent und der Hauptgrund, warum Polo die Kriminalität als einfache Lösung und angenehmen Ausweg aus seinem täglichen Elend sieht und sich in seiner naiven Weltanschauung nach dem vermeintlich komfortablen Leben sehnt, das sein Cousin als erzwungenes Mitglied eines hiesigen Drogenbande führt.
Fernanda Melchor konstruiert in Paradais wieder eine gekonnt dichte Atmosphäre, die Hitze des mexikanischen Sommers sowie der Hass und die Verzweiflung der Figuren liegen schwer zwischen den Seiten. Melchors Sätze sind gleichzeitig vulgär und melodisch, unfassbar lang und dennoch sehr mündlich in ihrer Sprache. Ein Schreibstil, der definitiv Geschmackssache ist, mir persönlich aber herausragend gut gefällt. Auch die Figurenzeichnung ist der Autorin gelungen: Franco überzeugt als frustrierter Incel, Polo als Mitläufer, dessen Hass durch seine eigene Biografie geprägt und geschürt wurde. Das Finale überrascht noch einmal mit seinem Ausgang, auch wenn von Anfang an schon klar ist, dass es hier kein Happy End geben wird.
Ja, seitdem konnte er nicht mehr schlafen, erzählte er Polo, alle zwei bis drei Tage brach er zusammen und verlor eine Zeitlang das Bewusstsein, so fühlte sich Einschlafen jetzt an, aber kein einziges Mal entkam er den Albträumen, und vielen von den Jungs ging es genauso, sie stöhnten und heulten und redeten sogar im Schlaf, manchmal rastete einer aus und schlug oder trat um sich […]; wobei die Schlimmsten natürlich die waren, die wie Engelchen schliefen, sobald ihr Kopf die Matratze berührt hatte, das waren die echten Dreckskerle, vor denen musste man sich in Acht nehmen.
So hart der Roman auch zu lesen ist, so brutal und verzweifelt die Gedanken Polos und Francos auch sein mögen, ist Fernanda Melchors Paradais trotz alledem ein relativ harmloser Nachfolger zu Saison der Wirbelstürme. Insgesamt hat mir noch ein wenig Wumms gefehlt, damit er komplett mit seinem Vorgänger mithalten kann – dennoch ein extrem lesenswertes Stück Literatur über Patriarchat, Misogynie und Klassenunterschiede im heutigen Mexiko, das sprachlich und atmosphärisch auf ganzer Länge überzeugen kann.
Ich stimme dir hundertprozentig zu. Toller Roman!
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Und er ist jetzt sogar für den International Booker Prize nominiert! Ich freue mich sehr für Melchors Erfolg und hoffe, es folgen noch weitere starke Romane in den nächsten Jahren.
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Vielen Dank für die Besprechung dieses Romans. Ich weiß nicht, ob oder wann ich sonst auf Fernanda Melchor gestoßen wäre und auch wenn das Lesen des Buches noch aussteht, habt ihr mich mit eurer Besprechung neugierig gemacht. Bisher hatte ich, zumindest nicht bewusst, keine literarischen Berührungspunkte mit Mexiko und bin durch einen Beitrag auf 54books heute nun ebenfalls auf der Suche nach Romanen mit historischem Bezug zum spanischen Mittelalter – denn mir fiel auf, mir fehlt ungemein Wissen und wie lässt sich dem besser begegnen, als mit Literatur?
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Mexikanische Literatur ist in Deutschland auch wirklich nur mäßig präsent…auf Melchors ersten Roman bin ich durch Zufall in der Buchhandlung gestoßen, aber er wurde nicht besonders viel in der Buchbubble besprochen, habe ich das Gefühl. Beide Bücher sind auf jeden Fall sehr lohnenswert! Als einen der bekannteren mexikanischen Autoren kann ich dir noch Juan Rulfo mit seinem modernen Klassiker „Pedro Páramo“ ans Herz legen – gerade, falls du García Márquez magst.
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Vielen Dank, habe ich mir auch auf meine Liste gesetzt. Wenn Mensch doch nur mehr Zeit hätte zum Lesen. Das ist das Wundervolle, an guten Buchhandlungen oder Blogs – die, die nicht nur das besprechen oder ausstellen, was eh jeder bespricht oder ausstellt! Das ausfindig machen, spannender Werke ist im Ausland lebend nicht immer einfach, auch wenn es hier ein, zwei deutsche Buchhandlungen gibt.
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[…] dreckig, präzise, knallend; und einer Atmosphäre so trostlos wie das Leben in Paradais selbst. Paradais haben wir hier […]
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