Fernanda Melchors erster ins Deutsche übersetzte Roman Saison der Wirbelstürme porträtiert ein mexikanisches Dorf gefangen in einem Strudel der Gewalt und Trostlosigkeit.
In La Matosa, einem fiktiven Dorf nahe der Küste Mexikos, wird eine Hexe umgebracht. Durch verschiedene Figuren wie den drogenabhängigen Luismi, seine Cousine, die unter seinen Eskapaden leidet, oder seine ungewollt schwangere minderjährige Freundin Norma werden immer mehr Hintergründe über die „Hexe“ und den Mord aufgedeckt. So entfaltet sich nach und nach ein Panorama des Hasses und des Machismo.
In La Matosa und den umliegenden Dörfern steht die Wirbelsturmsaison bevor: es ist dreckig, verstaubt und heiß. Die Bewohner führen trostlose Leben, gezeichnet von Elend, Armut und vor allem Gewalt. Richtige Jobs gibt es kaum, es gibt ein paar Bars und Bordelle entlang der Landstraße, Hausarbeit und Kindererziehung für die Frauen sowie schmutzige Geschäfte für die Männer. Und die Hexe verdient sich ihr Geld mit Tränken, Pillen und illegalen Abtreibungen. Alle Figuren, die auf den 230 Seiten auftauchen, haben ihr Leben verkorkst, oder sind in dieses hineingeboren und können ihm nicht entkommen. Perspektiven existieren nicht in La Matosa, ebenso wenig wie Hoffnung.
Saison der Wirbelstürme ist extrem deprimierend. Hier schlägt einem so viel Hass entgegen, vor allem Misogynie, auch von Frauen gegen andere Frauen gerichtet. Frauen sind eigentlich an allem Schuld: an ihrem eigenen traurigen Leben, an den Blicken der Männer, an den verzogenen Geschwistern, am Unglück der Eltern, an ihren Schwangerschaften oder Fehlgeburten. Sie werden ununterbrochen von ihrem gesamten Umfeld bewertet und als ungenügend empfunden, dabei werden sie bloß von Männern und auch anderen Frauen herumgeschubst, ohne selbst etwas entscheiden zu können. Auf der anderen Seite sehen wir allerdings, dass nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer Opfer des Machismo sind. Sie werden in bestimmte Rollenbilder gedrängt, die sie zu erfüllen haben, und so leiden zum Beispiel auch die homosexuellen Männer unter ihrer eigenen internalisierten Homophobie.
Die im Roman porträtierten Figuren sind Verlierer, die Abgehängten der Gesellschaft. Es scheint fast natürlich, über ausgeprägten Aberglauben, exzessive Gewalt, Drogen, Homophobie, Korruption, Alkoholismus, sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung, Mord und Polizeigewalt zu lesen. Besonders die Misogynie und Homophobie sind stellenweise unglaublich schmerzhaft. Aber auch im Allgemeinen verlangt die Lektüre viel Kraft und ist nichts für schwache Nerven (oder schwache Mägen). Es gibt von allem Negativen zu viel, viel zu viel, um authentisch im eigentlichen Sinne zu sein, und doch fühlt sich alles so verdammt real an.
War noch ziemlich jung, als wir ihn entjungfert haben, aber wir hatten es satt, ihn mit dem Arsch wackeln zu sehen, ganz geil hat er uns gemacht, und da haben wir ihn zu den Eisenbahnschienen mitgenommen und ihm alle zusammen den Fick seines Lebens verpasst, weißt du noch, Alter? Die Schwuchtel hat geweint vor Glück, der wusste gar nicht, wohin mit so vielen Schwänzen!
„Kinder zu haben ist eine Riesenscheiße; Kinder stehen dir nur im Weg, Kletten sind das, Parasiten“, heißt es an einer Stelle. Alle Figuren, egal ob Männer oder Frauen, Alte oder Kinder, bezeichnen sich gegenseitig als „Huren“ und „Dreckskerle“, „Oberwichser“, „Scheißkrüppel“, „Drecksvieh“ und „Schlampen“, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Der Umgangston ist rau und roh, eine derbe Sprache, die das harte, abgestumpfte Innere ihrer Sprecher widerspiegelt. Sätze erstrecken sich über mehrere Zeilen, mindestens, oft auch über mehrere Seiten. Jeder der Protagonisten hat sein eigenes Kapitel, und jedes Kapitel ist quasi ein einziger langer Paragraph mit nur wenigen Interpunktionen – und alle erzählen aus ihrer Perspektive dieselbe Geschichte um den Tod der sogenannten Hexe.
Das hat einerseits ein hastiges Tempo zur Folge, anderseits sorgt es manchmal für Verwirrungen auf der Zeitebene, da die Figuren immer wieder mitten in den endlosen Sätzen in die Vergangenheit und wieder zurück in die Gegenwart springen. Doch obwohl die Sprache klar und schnörkellos ist, gespickt mit viel umgangssprachlicher Ausdrucksweise, wirkt der Roman atmosphärisch unheimlich dicht. An manchen Stellen erinnert er an Roberto Bolaños Werke, insbesondere an seinen Roman 2666.
[…] und was noch schlimmer war, sie hatte Lust, ihm noch mehr zu erlauben, ihm zu erlauben, das mit ihr zu machen, was er wollte, was er ihr immer wieder ins Ohr flüsterte, die Sachen, die die Jungs in der Schule auf die Toilettenwände kritzelten und malten, die die Männer auf der Straße ihr im Vorbeigehen zuwisperten und die sie am liebsten mit ihnen gemacht hätte, mit Pepe oder den Jungen oder den Männern oder mit wem auch immer, alles, um nur nicht wieder diese schreckliche Leere zu fühlen, die ein paar Monate zuvor so entsetzlich gewesen war, dass sie oft im Morgengrauen in ihr Kissen geweint hatte
Auf ihrem Goodreads-Profil beantwortet Melchor die Frage, warum sie so exzessive Gewaltdarstellungen nutzt. Sie erklärt, dass ihre/unsere Gesellschaft nun mal sehr gewalttätig ist, dass die Beziehung unserer Welt und der eigenen Psyche eine gewalttätige ist, genauso wie die Beziehungen unter- und zueinander. Hier ist nicht ganz klar, ob sie die allgemeine moderne Gesellschaft oder explizit die mexikanische meint, vermutlich beide, aber vor allem letztere. Außerdem sei es ihre Intention zu zeigen, dass auch Slang, Umgangssprache und eine harte Ausdrucksweise poetisch sein können. In einem Interview erwähnt sie zudem, dass einige der Darstellungen auf realen Ereignissen basieren, die sie im Zuge einer journalistischen Recherche herausgefunden hat – auch, wenn keine der Romanfiguren wirklich existiert.
[…] als sie zurück nach Hause gingen, in der immer dichteren Dunkelheit, die nach und nach alle Farben ringsum verschluckte, Baumwipfel und Zuckerrohrpflanzen, und die Leinwand der Nacht in eine finstere Schiefertafel verwandelte, auf der wie kleine Karfunkel die Lichter glitzerten, die in der Ferne über den Haustüren des Dorfes hingen.
Saison der Wirbelstürme ist ein kurzer, aber kraftvoller Roman der mexikanischen Autorin Fernanda Melchor. In atemloser, derber Sprache erzählt sie von einer überspitzten, aber traurigen Gegenwart in ihrem Heimatland, in dem Gewalt an Frauen und Femizid an der Tagesordnung sind. Eine harte Lektüre, die aber nachhaltig zu beeindrucken vermag und zeigt, dass nicht die Natur die tödlichste Gefahr für den Menschen ist, sondern der Mensch selbst.
Saison der Wirbelstürme stand auf der Shortlist des International Booker Prize 2020 und wurde 2019 mit dem Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt für die herausragende Übersetzung durch Angelica Ammar ausgezeichnet.
[…] vieler Hinsicht hat mich Gestapelte Frauen an Fernanda Melchors Saison der Wirbelstürme erinnert – ein Roman über Misogynie, Armut, Gewalt und Aberglaube in einem mexikanischen Dorf. […]
LikeLike
[…] auch schon in ihrem vorherigen Werk Saison der Wirbelstürme stehen in Paradais patriarchale Strukturen und Denkweisen hier im Vordergrund. Frauenhass, toxische […]
LikeLike