Gabriel Josipovici – Wohin gehst du, mein Leben?

Gabriel Josipovici Wohin gehst du, mein Leben? Rezension

Gabriel Josipovici erzählt in Wohin gehst du, mein Leben? von Routinen und einem scheinbar klaren Lebensweg. Ein Roman voller Poesie und Vieldeutigkeit.

Nach dem Tod seiner ersten Frau ist er von London nach Paris gezogen, später, mit seiner zweiten Frau, von Paris nach Wales. Überall lebt er zurückgezogen als Übersetzer aus dem Französischen, mit festen Routinen und Abläufen. Als Kenner von Musik und Literatur ist er ein Mann mit festen Meinungen. Was und wie er ist, ist er scheinbar schon immer gewesen und mit seinem Tun ist er bereits länger beschäftigt, als er sich erinnern kann. Aber warum ist er so? Vielleicht nur, weil es in seinem Vorleben etwas gibt, an das er sich nicht erinnern will oder kann?

Es sieht ganz so aus, als hätte ich mein Leben damit verbracht, Plätze zu finden, wo ich mich hinsetzen und einfach an nichts denken konnte, sagte er dann immer.

„Vielleicht“ scheint das Lieblingswort des namenlosen Protagonisten in Gabriel Josipovicis Roman Wohin gehst du, mein Leben? zu sein. „Alles was er sagen kann, ist: Vielleicht“. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit dem Übersetzen von französischen Texten, die seiner Meinung nach immer die gleichen Figuren und Handlungen aufweisen. Im gesamten Roman bleibt er namenlos und wird vom Erzähler lediglich als „er“ benannt. Obwohl sich die Handlung der knapp 100 Seiten nur um ihn drehen, bleibt er bis zum Schluss unscharf und ist schwer zu greifen. Zum Zeitpunkt der Erzählung lebt er mit seiner zweiten Frau in einem renovierten Bauernhaus in Wales, wo er in seiner Erinnerung schwelgt und von der Vergangenheit berichtet: Von seiner ersten Frau, die jung gestorben ist und seinem Leben in Paris. Aufgrund der nicht chronologischen Erzählweise scheinen die Schauplätze und Zeiten nach und nach miteinander zu verschwimmen. Genauso verwischen die Grenzen zwischen der Fantasie des Übersetzers und der Wirklichkeit, so dass es schwer zu greifen ist, was wirklich der Realität entspricht und was nur seiner Vorstellung entspringt.

Wenn er an späten Nachmittagen nach getaner Arbeit durch die Stadt spazierte, überkamen ihn gelegentlich Einbildungen vom Ertrinken, ein lebhaftes Gefühl bestürzter Gesichter am Ufer oder auf der Brücke über ihm oder vielleicht an Deck eines vorüberziehenden Bootes, und dann würden die Wellen sich über ihm schließen und er würde sanft hinabsinken, nach und nach ein Fingerglied verlieren oder eine dicht gekräuselte Seele und dann auf dem sandigen Grund liegen, friedlich von der Strömung geschaukelt.

Josipovici berichtet vom Alltag seines Protagonisten, seinen Spaziergängen und Routinen, seiner Arbeit und einer in der Vergangenheit liegenden Katastrophe. Dazwischen finden sich einige essayistische Abschweifungen, die etwa von der Liebe des Protagonisten zu Monteverdis Orfeo (daraus stammt auch der Titel: Dove t‘en vai, mia vita?) und seiner Leidenschaft für die Gedichte von Joachim du Bellays, einem französischen Lyriker aus dem 16. Jahrhundert. Daran anknüpfend entstehen Reflexionen des Autors, die ihn immer wieder zu Thesen verleiten. Ganz im Gegensatz dazu steht seine Frau, wohlgemerkt „seine zweite Frau“, worauf immer wiederkehrend hingewiesen wird. Mit einem gewissen Spott kommentiert sie seine Gedanken und so sind die Gespräche der beiden von einer feinen Ironie durchzogen.

In dem einen Leben sind viele Leben. Andere Leben. Einige werden gelebt und andere sind eingebildet. Das ist das Absurde an Biographien, würde er sagen, an Romanen. Sie ziehen nie die anderen Leben in Betracht, die ihre Schatten über uns werfen, während wir uns allmählich, wie im Traum, von der Geburt zur Reife und zum Tod bewegen.

Mit andauernden Wiederholungen, Andeutungen und kleinen Variationen stellt sich beim Lesen nach und nach ein unbehagliches Gefühl ein. Dass da mehr sein muss hinter der Fassade des Protagonisten, seinen Gedanken und Routinen. Durch den Rhythmus der Sprache entsteht eine sogähnliche Anziehung, von der unklar ist, wohin sie einen eigentlich treibt. Vieles bleibt in der Schwebe, was bereits der Titel des Romans wunderbar einfängt. Dabei dreht sich vieles um die erste Frau. Wie ist umgekommen und welche Rolle hat er dabei gespielt? Gab es sie überhaupt, oder entstammt sie einzig seiner Vorstellungskraft? Ebenso verhält es sich mit den anderen Figuren. Seine zweite Frau ist angeblich ein Ebenbild seiner ersten – aber eigentlich haben sie nur dieselbe Haarfarbe. Und auch die Freunde bleiben komplett namenlos und sind ebenso wie die Leser ein Publikum, das den Geschichten des Protagonisten lauscht.

Er war ein altmodischer Typ, trug bei der Arbeit immer noch Jackett und Krawatte, und Mantel und Hut, wenn er das Haus verließ. Selbst am Höhepunkt des Pariser Sommers unternahm er keinen Gang ohne Hut. In meinem Alter, sagte er, ist es zu spät für eine Veränderung. Im Übrigen bin ich ein Gewohnheitstier, immer gewesen.

Mit Wohin gehst du, mein Leben? hat Gabriel Josipovici einen Roman geschrieben, der von der ersten bis zur letzten Seite durchkomponiert ist. Dabei sind die Sätze präzise und genau formuliert und dennoch stellt sich mit der Zeit eine immer größere Unsicherheit ein, die in einem direkten Widerspruch zu dem scheinbar unspektakulären Leben und der vermeintlichen Klarheit steht. Ist letztlich alles nur der Fantasie des Übersetzers entsprungen? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Vieldeutig und gänzlich ungewöhnlich ist dagegen dieser Roman, der herausfordert und mit großer Poesie vom Leben und seinen Variationen erzählt.

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