Zehn meist abstruse Szenarien, zehn mal genial erzählt: George Saunders Erzählband Zehnter Dezember schockiert aufs Herrlichste.
Ob White Trash, eine Mittelschicht-Familie mit Aufstiegswünschen, die Kapitalisierung von Gefühlen oder der einsame, verquere Außenseiter, der aus der Kontrolle seiner Eltern ausbricht: George Saunders in Zehnter Dezember versammelte Kurzgeschichten erzählen aus der Mitte der modernen amerikanischen Gesellschaft heraus.
Dad hatte mal gesagt, Verlass dich auf deinen Kopf, Rob. Wenn es wie Scheiße riecht, aber quer drübergeschrieben steht Happy Birthday und ne Kerze steckt drin, was ist es dann?
Ist da auch Zuckerguss drauf?, hatte er gefragt.
Saunders entwirft die verschiedensten Szenarien. So begleiten wir beispielsweise einen extrem streng erzogenen, geradezu gedrillten Jungen, der ein verhätscheltes Nachbarsmädchen beschützt, als dieses angegriffen wird. Ebenso werden wir Zeugen einer schrecklichen White Trash-Mutter, die ihren Sohn wie ein Tier verwahrlosen lässt und vollkommen überfordert mit dem Leben ist. In einer anderen Story werden gruselige, dystopische Experimente an Gefangenen durchgeführt, die die Kontrolle von Emotionen möglich machen sollen, eine weitere Erzählung zeigt eine moderne Form der Sklaverei inmitten einer Mittelschichts-Vorstadt-Idylle.
So unterschiedlich die Geschichten inhaltlich sind, so divers sind auch die Arten des Erzählens. Saunders schreibt oft sprachlich experimentell, mit fehlenden Worten stark an der gesprochenen, Umgangssprache orientiert oder – wie im Falle der Story eines Schaustellers des Mittelalter-Freizeitparks, der mit Hilfe einer Pille namens „Ryttersporn“ in ritterliches Denken und Sprechen verfällt – einen wundervollen Wechsel zwischen moderner und altertümlicher Sprache. Viele der Kurzgeschichten sind sprachlich wie stilistisch zunächst gewöhnungsbedürftig, doch es ist eine große Freude, zu sehen, wie kreativ und außergewöhnlich der amerikanische Autor seine Inhalte umsetzen kann.
Bin durchs Leben geschlafwandelt, Leser der Zukunft. Wird mir jetzt klar. Rubbellosgewinn war wie Weckruf. Schnell College-Abschluss gemacht, Pam erobert, Job gefunden, Kinder gemacht, bei Arbeit vorangekommen – und früheres Gefühl vergessen, für etwas Besonderes auserwählt zu sein, das ich als kleiner Junge hatte, wenn ich im zedernduftenden Schlafzimmerschrank saß, wenn ich durch hohe Fenster auf Bäume im Wind starrte und Gefühl hatte, eines Tages würde ich etwas Großes tun.
Das, was alle Kurzgeschichten gemeinsam haben, ist eine düstere Grundstimmung, ähnlich wie Nana Kwame Adjei-Brenyahs großartiges Werk Friday Black. Die Szenarien sind makaber, teils brutal und zeigen die Abgründe ihrer Figuren, repräsentativ für die Abgründe der modernen Gesellschaft – insbesondere der der USA: Kapitalismus, Neid, Prahlerei, Selbstüberschätzung, Vernachlässigung. Weltfremdheit, Missachtung der Menschenrechte und Missbrauch. Saunders schreibt erschreckend und fesselnd zugleich, seine Storys sind abstoßend und faszinierend, und keine einzige der zehn ist nur als mittelmäßig zu bezeichnen.
Wahr gesprochen: Klatsch & Tratsch der bösen Zungen verbreiteten sich in unserem Städtchen in der Tat wie Lauffeuer und würden zweifellos auch das Ohr von unserem armen Tropf Nate in Bälde erreichen. Und kaum sähe er sich über den üblen Missbrauch seiner Martha so grausam ins Bild gesetzt, würde Nate definitiv ausflippen. O Mann. Was n beschissener Tag.
George Saunders, der 2018 mit seinem Roman Lincoln im Bardo seinen großen Durchbruch in Deutschland hatte, überzeugt auch mit seinen vorher erschienenen Erzählungen aus dem Band Zehnter Dezember. Mit stilistischer wie sprachlicher Kreativität und außergewöhnlichen Szenarien vermag er es, seine Leser gleichsam zu schockieren und wunderbar zu unterhalten. Die zehn Storys sind düster und hart – nicht gerade das, was man Wohlfühllektüre nennt –, eine qualitativ hochwertige Mischung aus dystopischer Zukunft und grausamer Gegenwart, beängstigend und realistisch zugleich. Ein brillantes Buch über Verluste und Niederlagen in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
[…] George Saunders – Zehnter Dezember […]
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