Ein Werk über das Tier im Menschen: Guillermo Arriagas Roman Der Wilde kann seine Leser lange fesseln, bis die letzten hundert Seiten den Gesamteindruck deutlich schmälern.
Juan Guillermo wächst in den späten 60er Jahren in Mexiko-City auf. Niemand ahnt, dass sein Bruder Carlos einer der erfolgreichsten Drogenhändler der Stadt ist. Nachdem Carlos von einer radikalen katholischen Jugendgruppe ermordet wurde, brennt Juan auf Rache. Doch er muss nicht nur den Tod seines Bruders verkraften, auch seine Eltern und seine Großmutter sterben kurz darauf. Juan hat nur noch Rache im Sinn und erst die junge Chelo kann ihm einen Ausweg aus dem Strudel der Gewalt zeigen.
Geschrieben ist der Roman Der Wilde von dem bekannten Drehbuchautoren Guillermo Arriaga, von ihm stammen unter anderem die Vorlagen zu 21 Gramm und Babel. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen seinen Werken ist wohl kaum zu übersehen, denn auch Der Wilde zeichnet sich unter anderem durch verschiedene Handlungen aus, die zunächst unvereinbar scheinen. Zum einen verfolgt der Leser die Geschichte von Juan im Viertel Unidad Modelo, wo er sich für den Mord an seinem Bruder rächen will. Zum anderen wird von einem Jäger, dem Inuit Amaruq, erzählt, der einem sagenumwobenen Wolf auf der Spur ist, dabei in die tiefste Wildnis Nordamerikas vordringt und wie besessen seiner vermeintlichen Beute hinterherjagt. Und was so verschieden klingt, wird am Ende doch zusammengefügt.
Ich hasse die Beatles. Nach der Schule in einen vollen Bus zu steigen, eine Stunde im Gedränge zu stehen, in einen Trolleybus umzusteigen, um noch einmal eine halbe Stunde unterwegs zu sein, auszusteigen, die matschigen Fußballfelder zu überqueren und wieder in meinem Viertel zu sein, in meiner Welt aus gehäuteten Chinchillas, ultrakatholischen Judoka, Mädchen, die aus sechs Metern Höhe in die Tiefe stürzten, einem Wolfshund, der in Hundekämpfe gehetzt wird, und dann She loves you, yeah, yeah, yeah zu hören, war einfach ein Schlag ins Gesicht.
Was beide Welten vereint ist der harte Kampf ums Überleben, die alte Regel vom Fressen und Gefressenwerden. Während Juan sich gegen radikale Katholiken und die Polizei zur Wehr setzt, befindet sich Amaruq weit entfernt von anderen Menschen auf der Suche nach einem Wolf, der ihn nicht mehr loslassen kann.
Juans Leben ist von Verlusten geprägt, denn bereits bei seiner Geburt stirbt sein Zwillingsbruder, für dessen Tod seine Eltern ihn indirekt verantwortlich machen. Gewalt und Verlust sind weiterhin bestimmende Themen in seinem Leben. Arriaga erzählt seine Geschichte in vielen kurzen Kapiteln, wechselt die Zeitebenen und streut poetische Abschnitte ein, die aber nicht immer überzeugen können. Die Erzählung kreist immer enger um die Verluste von Juan und baut trotz des Wissens um die Tode Spannung auf, je mehr Details enthüllt werden. Neben der eigentlichen Handlung werden an verschiedenen Stellen enzyklopädisch anmutende Darstellungen abgehandelt, die sich mit den Inuit, den Wikingern oder Personen wie Honoré de Balzac auseinandersetzen. Obwohl der Sinn dafür im Gesamtkontext ersichtlich ist, wirken diese Ausführungen dennoch wie ein Bruch, gerade in Bezug auf die fiebrige und hektische Handlung in Mexiko City.
Trotz dieser Kritikpunkte kann Der Wilde seine Leser über lange Zeit mit seiner Handlung fesseln, die der Autor in einem Interview knapp als eine Geschichte von Liebe und Freundschaft charakterisiert. Themen, die zeitlos sind und eigentlich immer funktionieren. Die Umstände von Carlos Tod und Juans Rolle werden erst nach und nach aufgedeckt, die Spannung ist wie bei einem guten Thriller unheimlich hoch und Arriaga beherrscht die Kunst, immer mehr kleine Informationen zu liefern, die sich dann zu einem großen Bild zusammenfügen. Und auch wenn die eingeschobenen Gedichte, wie etwa „die Etymologie des Leidens“ nicht immer überzeugen können, findet Arriaga doch zu einer sprachlichen Wucht, mit der er die verschiedenen Geschichten erzählt und bleibende Bilder kreiert.
Je größer die Kontrolle, desto mehr Triebe schwelen in der Tiefe. Aber dort, wo die Ordnung aufbricht, blüht das Schlechteste im Menschen auf.
Der Autor verliert allerdings auf den letzten knapp zweihundert Seiten die Balance. Die Handlung um den Wolf im Norden nimmt immer mehr Raum ein und wird dabei auch immer unglaubwürdiger, bis sich am Ende die absurd anmutenden Wendungen häufen. Generell kann dem Werk vorgeworfen werden, dass die Wolfsgeschichte zu bemüht die andere Handlung auf einer symbolischen Ebene spiegelt und Arriaga sich zusehends in unnötigen Schilderungen verliert. So wird durch das Ende ein guter Eindruck doch um einiges getrübt.