Das Schweigen der Verzweiflung: Linda Boström Knausgård erzählt in Willkommen in Amerika in einem Kammerspiel über den Kampf zwischen Mutter und Tochter.
Die elfjährige Ellen hat beschlossen, nicht mehr zu sprechen. Ihre Mutter, eine erfolgreiche Schauspielerin, versucht nach der Trennung von Ellens Vater, das Familienglück aufrechtzuerhalten. Der Bruder verbarrikadiert sich allein in seinem Zimmer. Durch ihr Schweigen will Ellen die dunkle Wahrheit ihres Ichs schützen und fordert die Mutter zu einer Art Kräftemessen heraus.
Wenn ein Roman mit dem Satz „Ich spreche schon seit Langem nicht mehr“ anfängt, ist wohl kaum ein fröhlicher Familienroman zu erwarten. Linda Boström Knausgård widmet sich in ihrem Buch Willkommen in Amerika einer zerbrochenen Familie, in der die Mutter nach außen stets fröhlich und heiter wirkt, denn sie sind ja „eine helle Familie“. In der elfjährigen Tochter sieht es dagegen ganz anders aus. Nach der Trennung wird der Vater gewalttätig und steht plötzlich betrunken auf dem Balkon. Er trinkt, liegt depressiv im Bett, wird aggressiv und findet aus dem Norden stammend in der südlichen Stadt keinen Halt und kein Zuhause. Ellen betet zu Gott er solle sterben und eines Morgens ist er tot. Das Mädchen verstummt und schreibt auch nicht mehr, niemand findet einen Zugang zu der Elfjährigen.
Ich hörte auf zu sprechen, als das Wachstum zu großen Raum einnahm. Denn ich war mir sicher, dass ich nicht gleichzeitig wachsen und sprechen konnte. Vielleicht war ich eine Art Anführer gewesen. Es tat gut, das nicht mehr zu sein. Nicht mehr so viele im Auge behalten zu müssen. Nicht mehr so viele Träume zu erfüllen Wünsch dir etwas von mir, sagte ich manchmal. Aber ich konnte die Wünsche nie erfüllen. Nicht wirklich.
Doch Ellen ist nicht die einzige, die sich zurückzieht. Ihr älterer Bruder schließt sich in seinem Zimmer ein, um mit seiner Musik allein zu sein. Vor seinen Ausbrüchen ist Ellen stets auf der Hut. Als Leser blicken wir durch die Augen des elfjährigen Mädchens und Ich-Erzählerin auf diese Familie, die aus Sicht der Mutter von der Dunkelheit des Vaters bedroht wird. Der Roman ist fast schon ein Kammerspiel, das sich mit nur wenigen Ausnahmen in der großen Wohnung abspielt und ein Kampf zwischen Mutter und Tochter ist. Eindringlich und einfühlsam schreibt die Autorin über die kleine Ellen, die sich in sich selbst zurückzieht und unter der selbst auferlegten Ausgeschlossenheit leidet. Dabei ist es kaum vorstellbar, wie groß ihre Angst gewesen sein muss, so dass der Wunsch, dass der Vater sterben möge, zum täglichen Gebet wurde. Und danach kamen die unerträglichen Schuldgefühle, die Ellen zerreißen.
Durch ihr Schweigen widersetzt sie sich der Mutter, die es nicht akzeptieren will, dass die Familie zerbrochen ist und immer Heiterkeit und Frohmut an den Tag legt. Es ist kaum auszuhalten, sie durch die Augen von Ellen zu beobachten, wie sie von einer „hellen Familie“ spricht und so entsteht immer mehr der Eindruck, dass die Mutter das Schweigen der Tochter nicht akzeptiert, sondern sich vielmehr nicht ernsthaft darum kümmert und das Unübersehbare leugnet.
Die Dunkelheit war überall. Die Dunkelheit roch. Sie roch nach Angst und etwas Süßem. Die Dunkelheit strömte aus dem Hahn und füllte die Badewanne. Ich wusch mir darin die Haare, meinen Körper, meine ganze Person. Ich aß von der Dunkelheit und wurde innerlich davon eingefärbt.
Das Leid von Ellen und ihrer Familie beschreibt Boström Knausgård in kurzen und prägnanten Sätzen, die das emotionale Elend auf den Punkt bringen. Dabei ist die Sprache ebenso knapp wie bildreich. Umfasst der Roman nur 140 Seiten, ist dabei jede einzelne davon stilistisch durchkomponiert. Boström Knausgård beherrscht das Zurückhaltende genauso wie das Eindringliche und lässt den Leser so in den Abgrund der Familie und Ellen blicken.
Einige werden sicher bei dem Namen Knausgård aufgehorcht haben. Und ja, Linda Boström Knausgård war bis 2016 mit dem norwegischen Schriftsteller Karl Ove Knausgård verheiratet, der mit seinem autobiographischen Projekt Min Kamp für großes Aufsehen gesorgt hat. Warum ist das wichtig? Ich bin in den letzten Monaten bis zum vierten Band dieser Reihe gekommen, in der er sich unter anderem mit der Beziehung der beiden auseinandersetzt. Dabei geht er, wie eigentlich immer, auch mit Linda alles andere als schonend um, berichtet von ihren psychischen Problemen und ihrer psychiatrischen Behandlung. Ist das wichtig, um ihr eigenes Schreiben danach zu verstehen? Natürlich könnte man anfangen, nach Überschneidungen zwischen Ellen und Linda zu suchen, man könnte aber auch feststellen, dass Lindas literarisches Werk hier mindestens genauso gut funktioniert (wenn nicht sogar besser), wie das ihres Ex-Mannes und die Reduzierung auf ihren angenommen Nachnamen einen letztlich nicht weiterbringt.
Mit ihrem Roman Willkommen in Amerika verleiht die Autorin der verstummten elfjährigen Ellen eine Stimme (solche Konstruktionen funktionieren wohl auch nur in der Literatur) und zieht den Leser immer tiefer in einen dunklen Sog. In knappen und bildreichen Sätzen entsteht das Bild einer zerbrochenen Familie, das den Leser gefangen nimmt und nicht mehr loslässt. Ein kurzer aber umso eindringlicherer Roman.
Weitere Rezensionen findet ihr bei lustauflesen und Zeichen&Zeiten.