Italo Calvino – Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Italo Calvino Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Italo Calvino hat mit seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht eine literarische Schnitzeljagd geschaffen – ein außergewöhnliches Werk über Wahrheit und Täuschung, über den Leser und den Autor.

Du, lieber Leser, der du vom Autor direkt angesprochen wirst in diesem Roman, kaufst dir das neue Buch des Schriftstellers Italo Calvino. Leider stellst du nach einigen Seiten enttäuscht fest, dass die Geschichte mittendrin abbricht – ein Fehldruck. Auf der Suche nach dem Rest des Romans erhältst du allerdings wieder ein fehlerhaft gedrucktes Werk, dieses Mal jedoch das eines anderen Autors. So geht es immer weiter, bis du so viele Geschichten angefangen und nicht beendet hast, dass es dich fast in den Wahnsinn treibt. Zum Glück hast du aber Ludmilla kennengelernt, die in diese ganze Sache irgendwie verwickelt zu sein scheint. Gemeinsam versucht ihr, herauszufinden, warum all diese Romananfänge im Umlauf sind und wer dafür verantwortlich ist.

Ich wünschte, ich könnte ein Buch schreiben, das nur ein INCIPIT wäre, ein Buch, das sich über seine ganze Länge hin die Potentialität des Anfangs bewahrt: die noch gegenstandslose Erwartung.

Italo Calvinos 1979 erschienener Roman mit dem originellen und langen Titel Wenn ein Reisender in einer Winternacht hat sich ein großes Werk zum Vorbild genommen: Ähnlich wie in Tausendundeine Nacht, der aus dem 8. Jahrhundert stammenden arabischen Sammlung von Erzählungen, beginnt Calvino im Laufe seines Romans viele Geschichten hintereinander, verschachtelt ihre Anfänge, sodass nicht nur sein Protagonist, der Leser, sondern auch wir als Leser uns immer wieder in neue Handlungen hereinfinden müssen. So breitgefächert die Themen dieser Geschichten sind, sind es auch ihre Genres. Der Leser findet einen magisch-realistischen Romananfang, einen über die russische Revolution, einen Psychothriller, einen in Japan angesiedelten Erotikroman und einen Gangsterkrimi, um nur einen Teil aufzuzählen. Somit bietet Calvino quasi einen Querschnitt der zeitgenössischen Weltliteratur.

Calvino, der 1985 starb, ist ein bedeutender italienischer Schriftsteller, der in diesen Jahren in Deutschland eher weniger bekannt ist. Er veröffentlichte unter anderem die Bücher Die unsichtbaren Städte, Herr Palomar, Der Baron in den Bäumen und Ein General in der Bibliothek. Vor seinem Tod wurde Calvino als heißer Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt.

[…]und doch sind die wahren Autoren immer noch jene, die damals für ihn nur ein Name auf dem Buchdeckel waren, ein Wort, das mit dem Titel zu einer Einheit verschmolz, Autoren, die ein und dieselbe Realität besaßen wie die Personen und Orte in ihren Büchern, Wesen, die ganz wie jene Personen und Orte zugleich existierten und nicht existierten. Der Autor war ein unsichtbarer Punkt, aus dem die Bücher kamen, ein leerer Raum, durchzogen von Phantasien, ein unterirdischer Tunnel, der die anderen Welten mit dem Hühnerstall seiner Kindheit verband…

Calvinos Anfänge von Geschichten, die immer wieder nach kurzer Zeit mittendrin unterbrochen werden, frustrieren den Leser-Protagonisten des Romans und vermutlich auch den ein oder anderen realen Leser. Auch wenn anfänglich das Gefühl bestehen mag, dass sich alles nur wiederholt und nirgends hinführt, lässt Calvino den Leser in seiner Geschichte mit seinen Nachforschungen vorankommen. Er findet heraus, wer hinter all den begonnenen und nicht beendeten Geschichten steckt und versucht, diese Person ausfindig zu machen. Hier beginnt ein verwirrendes Spiel um Lug und Trug, um Täuschung, Wahrheit, Agenten und Doppelagenten, Dreifach- und Vierfachagenten. Ich muss zugeben, dass ich hier ein wenig den Überblick verloren habe, vermute aber, dass genau das Calvinos Absicht war.

Neben der Schnitzeljagd, die wilder und gefährlicher ist, als es der Begriff vermuten lässt, geht es in den Kapiteln des Lesers vor allen Dingen um das Lesen und die Liebe zu den Büchern, um das Schreiben. Der Autor, der für die frustrierenden Romananfänge erforderlich ist, vermischt sich mit dem Autor, der das gesamte Buch geschrieben hat – Calvino selbst –, die Grenze zwischen Literatur und Realität wird aufgehoben. Fiktion wird zu Metafiktion und die Protagonisten werden zu Philosophen ihrer selbst. Was bedeutet das Lesen, was bedeutet das Schreiben? Wer ist der Autor eines Buches, kann man ihn überhaupt ausmachen? Sind nicht vielmehr die Leser auch Autoren oder Mitautoren eines Romans? Zählt nicht neben der Autorintention auch die Leserintention?

Der passive Leser wird zum Protagonisten und beeinflusst das Buch selber mit, und zwar wortwörtlich. Was Calvino in vielen ellenlangen, komplexen Sätzen thematisiert, die sich zugegebenermaßen recht anstrengend lesen lassen, stammt geradewegs aus der Literaturwissenschaft und spielt sowohl auf die Autortheorie von Roland Barthes („Der Tod des Autors“, 1968) als auch auf die von Umberto Eco („Zwischen Autor und Text“) an. Für mich, die ich vor wenigen Semestern ein Seminar zum Thema Autorschaft belegt habe, war dies also eine äußerst interessante Lektüre. Aber auch der literaturwissenschaftlich nicht-versierte Leser kann glaube ich ganz gut nachvollziehen, welche Überlegungen Calvino hier anstellt, da sie sehr anschaulich und praxisnah dargestellt werden.

Die Leser sind meine Vampire. Ich spüre ein Heer von Lesern, die mir über die Schulter blicken und meine Worte an sich reißen, kaum dass sie auf dem Papier stehen. Ich bin unfähig zu schreiben, wenn mir jemand zusieht: ich spüre, dass mir, was ich da schreibe, nicht mehr gehört. Ich möchte verschwinden, möchte der lauernden Erwartung in ihren Blicken nur das in die Maschine gespannte Blatt überlassen, allenfalls noch meine auf die Tasten schlagenden Finger.

Italo Calvinos Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht ist ein merkwürdiges Buch, ganz und gar ungewöhnlich und anders als jedes andere, das ich bisher gelesen habe. Es ist anstrengend, ja, und wie, und man muss denke ich in der richtigen Stimmung sein, um es lesen und genießen zu können. Der italienische Autor lässt seine Leser eine spannende und verrückte literarische Schnitzeljagd von Buch zu Buch und darüber hinaus spielen, hat jedoch auch ein cleveres metaliterarisches Werk geschaffen, das sowohl Autorschaft als auch Leserschaft hinterfragt und durch seine Protagonisten lebendig werden lässt.

Funfact: Sting benannte 2009 sein Album If on a Winter’s Night nach Italo Calvinos Roman.

6 comments

Add Yours
  1. andrea

    Ich habe das letzte Mal an der Uni etwas von Calvino gelesen – auf Italienisch. Das Buch klingt auf jeden Fall sehr interessant. Vielen Dank für die Vorstellung. Ich habe zur Zeit ein bisschen das Gefühl, dass ich sonst nur Dinge über Neuerscheinungen erfahre, dabei gibt es ja so viele auch etwas ältere Bücher!

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    • letusreadsomebooks

      Das ist ja klasse – weißt du noch, welches Buch das war? :)
      Ja, wir geben uns Mühe, immer breitgefächert zu lesen und zu rezensieren – es gibt einfach viel zu viele ältere Bücher, die noch unbedingt gelesen werden müssen und die man irgendwie (wieder)entdeckt!
      Von Calvino klingen eigentlich alle spannend, ich werde mir eventuell bald mal „Der Baron in den Bäumen“ besorgen, das auch herrlich verrückt zu sein scheint.

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      • andrea

        Es war „Le città invisibili“, auf Deutsch „Die unsichtbaren Städte“. Es ist aber schon so lange her, dass ich nicht mehr genau weiß worum es ging, ich weiß nur noch, dass es mir gefallen hat. :)

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  2. Flo

    Ich kannte bisher weder das Buch, noch den Autor, aber nach der Beschreibung bin ich jetzt neugierig. Die Sache mit den verschiedenen Geschichten hat mich erst denken lassen, dass das Buch bestimmt 500+ Seiten hat, aber eine kurze google-Suche sagt, dass es keine 300 sind. Ist auf jeden Fall mal vorgemerkt.

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    • letusreadsomebooks

      Irgendwie schafft er es, unglaublich viele Themen, Geschichten und Standpunkte in dieses gar nicht so lange Buch zu packen, das stimmt! Man rast auf jeden Fall nur so hindurch, wenn man sich erst mal an den sprachlich doch recht anspruchsvollen Stil und die ständigen Wechsel gewöhnt hat! Freut mich, dass wir dir einen neuen Autor zeigen konnten! :)

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