Jón Kalman Stefánsson – Fische haben keine Beine

Fische haben keine Beine

In seinem Roman Fische haben keine Beine zeigt sich der isländische Schriftsteller Jón Kalman Stefánsson von seiner besten Seite. Er erzählt bildreich und poetisch über die Bedeutung von Familie, Freundschaft und Liebe.

An einem Dienstag verlässt der Verleger und Schriftsteller Ari seine Frau und Kinder ohne jede Vorankündigung. Er findet für kurze Zeit Unterkunft in einem Hotel, bevor es ihn nach Kopenhagen zieht. Doch warum hat er sich zu diesem Schritt entschlossen? Drei Jahre später kehrt Ari zurück, auf die Bitte seines Vaters. Ein altes Foto von ihm und seiner Mutter wecken alte Erinnerungen. Seine Familie und die eigene Jugend in der abgelegenen Stadt Keflavík: zwischen Beatles, der US-Army, Pink Floyd und den ersten Begegnungen mit Mädchen.

Der Roman beginnt mit Aris Rückkehr nach Island. Drei Jahre lang war er fort, um nun überraschend in den Ort seiner Jugend zurückzukehren. Auslöser für seine Reise in die Heimat ist ein Brief von seinem Vater, der im Sterben liegt. Ari möchte seinen Vater ein letztes Mal sehen. Mit dem Schreiben hat sein Vater auch eine alte Urkunde von Aris Großvater Oddur geschickt, einem angesehenen Kapitän und Schiffseigner. Erzählt wird die Handlung von einem namenlosen Ich-Erzähler, der zwischen den verschiedenen Genrationen von Familienangehörigen wechselt und ihre jeweilige Geschichte erzählt. Während ein Teil der Handlung Aris Rückkehr darstellt, wird gleichzeitig das Leben seiner Großeltern in Norðfjörður beschrieben, während es eine dritte zeitliche Ebene gibt, die dazwischen liegt und die Jugend von Ari und dem Erzähler des Romans behandelt. Ort des Geschehens ist ein Ort im Südwesten Islands: Keflavík.

In Keflavík gibt es drei Himmelsrichtungen: den Wind, das Meer und die Ewigkeit.

Dem eigentlichen Roman ist ein Zitat vorangesetzt, in dem es heißt: „Keflavík gibt es nicht.“ Den Ort gibt es natürlich doch und es ist ein zentraler Punkt für Aris Leben. Denn hier hat er seine Jugend verbracht. Mit dem Zitat ist vielleicht eher gemeint, dass die Stadt unscheinbar ist, leicht in Vergessenheit gerät und damit auch das Schicksal ihrer Bewohner. Doch für Ari bedeutet er immer noch viel und ist vor allem auch mit Erinnerungen verbunden: Rockmusik, amerikanische Soldaten und Mädchen. Hierhin kehrt er also zurück, nachdem er in Kopenhagen als Lektor gearbeitet hat und vor etwas Unausgesprochenem zwischen ihm und seiner Frau geflohen ist.

Denk mit uns daran: Das Meer ist größer als der Alltag. Auf dem Meer erholt man sich. Da ist die Weite, die unermessliche Größe, die beruhigt, tröstet und die Probleme des Lebens klein aussehen lässt. Schwierigkeiten an Land, Reibungen, Ärger, Umgang mit Menschen, lästige Pflichten – man schaut in die Wellen und merkt, wie das Dasein in der Brust zur Ruhe kommt. […] Zur See fahren, das ist die Freiheit. Doch Freiheit beinhaltet auch, dass du dich auf niemanden verlassen kannst, auf keinen anderen Menschen und schon gar nicht auf deine Gebete, denn die Güte des Himmels bleibt an Land zurück. Du kannst dich nur auf dich selbst verlassen.

Die Figuren von Fische haben keine Beine sind ‚normale‘ Menschen, die alltägliche Schicksale erleben und dabei auf der Suche nach Glück und Liebe sind. Leben und Tod spielt dabei immer eine Rolle. Dabei werden einfühlsam viele kleine Beobachtungen beschrieben, die auf den ersten Blick nur wenig Bedeutung haben und zu voreiligen Schlüssen verleiten, doch wie sich später herausstellt, für die Betroffenen fatale Folgen haben. Ebenso geht es um zwischenmenschliche Beziehungen: sowohl Freundschaft als auch Partnerschaft. Stefansson macht viele kluge Bemerkungen, die durchaus in die Kategorie philosophisch eingeordnet werden können und beschäftigt sich mit großen Themen, aber anhand von einfachen Personen.

Doch der Roman ist nicht nur auf inhaltlicher Ebene absolut lesenswert. Die Sprachkunst und Sprachvielfalt des Autors ist ein ganz eigenes Erlebnis. Voller Poesie und eindrücklicher Bilder schildert er das Leben von Aris Familie über mehrere Generationen hinweg. Das Tempo des Romans ist eher gedrosselt, so dass genug Zeit bleibt, um der sprachlichen Umsetzung des Buches die Aufmerksamkeit zu widmen, die sie verdient. Manchmal entsteht das Gefühl, dass eigentlich der ganze Roman zitiert werden sollte. Es ist bewundernswert, wie Stefánsson es schafft, für alles die passenden Wörter und Sprachbilder zu finden. Obwohl sich Fische haben keine Beine sich mit grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens beschäftigt, die letztlich auch um die Frage nach dem Sinn des Lebens kreisen, regt der Roman vielmehr zum Nachdenken an, als das er versucht, Antworten zu liefern. Eigenverantwortung und die Suche nach dem, was den Einzelnen ausmacht, sind nicht umsonst häufig thematisierte Aspekte der Handlung.

Er guckt die Postkarten an und denkt: Sie zeigen unsere Träume. Traurig denkt er, manchmal sind unsere Träume nichts als Täuschungen, Ausflüchte, Beweis dafür, dass wir uns nicht trauen, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, uns mit der Welt auseinanderzusetzen und mit uns selbst in ihr.

Fische haben keine Beine ist eine klare Empfehlung. Ruhig und mit großer Sprachkunst erzählt Jón Kalman Stefánsson von einfachen Menschen und Themen, die letztlich jeden betreffen. Er zeigt deutlich, wie einzigartig und verletzlich das Leben ist und bietet viele Gelegenheiten, um über das Gelesene nachzudenken und auch zu diskutieren.

Weitere positive Rezensionen findet ihr bei Kultur-Tagebuch und leseschatz.

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