Der Verfall einer Gesellschaft
Nachdem erst ein Junge spurlos verschwindet, sind es nach einiger Zeit weitere. Doch niemand scheint sich Sorgen zu machen oder die Kinder zu suchen. Die Erwachsenen sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Nachdem Innertown einst eine blühende Stadt war, ist nun der ganze Boden vergiftet und es besteht keine Hoffnung auf Besserung. Da kommt die offizielle Erklärung, die Kinder wären fortgegangen um eine bessere Zukunft zu suchen, nur recht und wird bereitwillig geglaubt. Einzig der Polizist Morrison könnte die Wahrheit aufdecken, doch er hat, wie viele andere, seine Seele bereits verkauft.
Der Ort der Handlung, das Städtchen Innertown ist ein düsterer Ort, der aus grauen Häusern und verseuchten Wäldern besteht. Sein einstiges Zentrum, eine Chemiefabrik, ist verfallen. Nach der Schließung der Fabrik herrscht Arbeitslosigkeit und Krebserkrankungen greifen um sich:
„Urplötzlich traten unerklärliche Häufungen seltener Krebserkrankungen auf. Kinder litten unter grässlichen Gebrechen und entwickelten seltsame Verhaltensstörungen. Außerdem verzeichnete man eine unerklärliche Zunahme an Depressionen, eine wahre Blütezeit dessen also, was in alter Zeit der reinste Irrsinn genannt worden wäre.“
Unter diesen Umständen erscheint es nur logisch, dass sich die Jungen auf den Weg in andere Städte gemacht haben, denn in Innertown herrscht Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Ebenso grau wie die Landschaft und der Ort, erscheint das Innenleben der Menschen. Als der Polizist Morrison einer Familie vom Verschwinden ihres Sohnes berichtet, sind diese bereits so abgestumpft, dass sie es kaum schaffen den Blick vom Fernseher zu nehmen oder diesen leise zu stellen. Die Bewohner Innertowns haben sich mich ihren Schicksal offenbar abgefunden. Niemand lehnt sich gegen die Korruption auf, oder sucht Verantwortliche für den verseuchten Boden. Sie sind hilflos und versinken in ihrem leeren tristen Alltag.
Die Beschreibung auf dem Buchrücken, dass nur die Kinder sich weigern, ihre Freunde aufzugeben ist etwas übertrieben. Ein Großteil der Geschichte wird aus der Sicht von Leonard, einem ungefähr 15-Jährigen Jungen erzählt, der scheinbar rückblickend von den Geschehnissen berichtet. Zwar denken er und auch einige andere Jugendliche an die Verschwundenen, aber der größte Teil des Romans nimmt doch die Beschreibung seines trostlosen Alltags ein. Leonard ist intelligent und begeistert sich für Literaturklassiker wie Proust, Melville und Dostojewski, ebenso für ältere Filme. Zu Beginn ist Leonard eher ein Einzelgänger, der sich alleine um seinen schwer kranken Vater kümmern muss und sonst viel Zeit in der Stille der geschlossenen Fabrik und der verseuchten Umgebung verbringt. Das Einzige was mich an dem Roman wirklich gestört hat, ist die Beziehung von Leonard und Elsbeth. Die Beiden sind zwar ein Paar, dabei geht es aber nicht um zwischenmenschliche Gefühle, sondern nur um Sex. Vor allem Elsbeth ist immer auf der Suche nach „einem guten Fick“ und hält es wohl auch für normal, als eine der ersten Fragen in einem Gespräch „soll ich dir einen blasen?“ zu stellen. Für mich haben diese Gespräche und Handlungen viel von der Stimmung, die vorher sehr gut aufgebaut wurde, gestört. Hier passt für mich auch der Sprachgebrauch nicht zu den anderen Beschreibungen.
Die beiden Teile des Romans sind überschrieben mit „Das Buch Hiob“ und „Die Feuerpredigt“. Ebenso wie Hiob, der die Prüfungen Gottes annimmt, nehmen die Bewohner ihr Leid an und suchen nicht nach Erlösung. Einzig Leonard macht einen Unterschied. Im gesamten Buch finden sich viele biblisch anmutende Stellen und Bezüge, die am Ende zusammenlaufen. Das Ende, auch wenn es sehr offen gestaltet ist, hat mich positiv überrascht.
Glister von John Burnside war für mich nicht immer einfach zu lesen. Die Atmosphärischen Beschreibungen der verseuchten Landschaft, die Hoffnungslosigkeit der Menschen und ihre Teilnahmslosigkeit sowie Gefühlslosigkeit, auch gegenüber ihren eigenen Kindern, sind düstere, teilweise verstörende, Themen. Ich mag John Burnsides Stil unheimlich gerne. Manchmal sind die Sätze sehr lang, aber immer klar und voller Poesie. Dabei schafft er es, sein eigenes Urteil zurückzuhalten und gibt dem Leser viel Spielraum für eigene Gedanken und Interpretationen.
„Doch nichts entschwindet, auch ich nicht. Nichts entschwindet in die Vergangenheit, es wird höchstens vergessen und so zur Zukunft. […] Immer ist Jetzt, und alles – Vergangenheit und Zukunft, Problem und Lösung, Leben und Tod -, alles ist gleichzeitig hier, in diesem Moment. Der Ort aber, an dem ich bin, hat viele Namen, je nachdem, welche Geschichte man glaubt: Himmel, Hölle, Tir Na Nog oder Traumzeit. Dabei wissen wir alle, es ist weder dieses noch jenes, sondern nur der Ort, an dem Geschichten beginnen und enden. Und jetzt beginnt meine Geschichte aufs Neue, ein letztes Mal, noch während sie verglüht.“
Glister ist ein Schauerroman, ein Thriller, Gesellschaftskritik, öfter philosophisch aber auf jeden Fall ist es sehr literarisch.
Düster, bedrückend und absolut lesenswert
Wer John Burnside kennt, weiß, dass seine Roman nicht einfach oder fröhlich sind und auch Glister ist hier keine Ausnahme. Aber ebenso wie seine anderen Romane ist es sehr literarisch und atmosphärisch. Einzig die sexsüchtige Elsbeth stört mich doch ziemlich. Ansonsten ist es ein lesenswerter Roman, der mich als Leser auch noch einige weitere Tage begleiten und beschäftigen wird.
Hier findet ihr ein interessantes Interview mit dem Autor.
[…] letusreadsomebooks […]
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