Nicolas Mathieu – Wie später ihre Kinder

Nicolas Mathieu Wie später ihre Kinder Rezension

Über das Leben abgehängter Jugendlicher in der französischen Provinz: Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu ist ein fesselnder Roman und erhielt verdientermaßen den Prix Goncourt.

Wie später ihre Kinder begleitet über vier Sommer, zwischen 1992 und Smells Like Teen Spirit, bis 1998 und der Fußballweltmeistermeisterschaft, Anthony, Hacine und ihre Freunde. Sie werden groß in einer Welt, die ihnen kaum noch etwas zu bieten hat. Mit der Schließung der Hochöfen in Heillange ist gleichzeitig die Zukunftsperspektive verschwunden und die Industrieruinen sind nur noch Schauplatz für abendliche Besäufnisse der Jugendlichen. Was ihnen bleibt, ist die Hoffnung auf ein anderes und erfüllteres Leben. Dennoch hängen sie an ihrer Heimat.

Das Leben würde weitergehen. Das war das Schlimmste. Das Leben ging weiter.

Die Figuren in Nicolas Mathieus Roman Wie später ihre Kinder gehören eindeutig zu den Verlierern der Globalisierung. Wo einst die Stahlindustrie boomte, sind nur noch verlassene Fabriken übrig und für die Bewohner des fiktiven Ortes Heillange, in der Nähe der luxemburgischen Grenze, wird das Leben immer schwieriger. Anthony will eigentlich endlich ausbrechen aus diesem Zustand und den Problemen der Eltern. Während der Vater mit Gelegenheitsjobs das Familieneinkommen aufbessert, wird seine Mutter im Ort als „Schlampe“ bezeichnet und am Wochenende finden regelmäßige Grillabende und Besäufnisse mit den Nachbarn statt. In einer bildungsfernen Familie mit einem trinkenden und gewalttätigen Vater sind die Perspektiven für Anthony begrenzt. Mindestens genauso schlecht steht es für Hacine, Sohn marokkanischer Einwanderer, der sich mit Marihuana-Verkäufen über Wasser hält. Die Ausbruchsversuche aus ihren Milieus sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Auch die Kinder aus wohlhabenderen Familien, wie Steph, in die sich Anthony verliebt, suchen nach einem Weg raus aus der Provinz. Eigentlich will sie sich nicht mit dem „Asi“ Anthony sehen lassen und versucht soziale Grenzen aufzuziehen, die im Vollrausch aber immer wieder verschwimmen.

Die Männer redeten wenig und starben früh. Die Frauen färbten sich die Haare und verloren nach und nach ihren Optimismus. Im Alter hielten sie die Erinnerung an ihre Männer wach, die krepiert waren, auf der Arbeit, in der Kneipe oder an einer Staublunge, die Erinnerung an die Söhne, die sich totgefahren hatten, und an alle, die abgehauen waren.

Mathieu beschreibt eine Welt, in der sich die Protagonisten und ihre Familien kaum gegen den ökonomischen Druck zu Wehr setzen können. Die Folgen sind Gewalt, Kriminalität und Drogenkonsum. Als Schuldige für die Misere werden die Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien ausgemacht. Auch Anthonys Mutter erlebt, wie sich ihr Sohn immer mehr verändert und ihr fremder wird. In eher knappen, aber pointierten Beschreibungen setzt sich Mathieu mit dem Innern der Figuren auseinander. Durch Rückblenden werden ihre Entwicklungen nachvollziehbar. Dabei verzichtet er auf bewertende Kommentare und lässt die Geschichte sich so frei entfalten. Auf diese Weise offenbaren sich in den Handlungen die Zerrissenheit, Ängste und Träume der Protagonisten und durch viele kleine Details ergeben sich differenzierte Bilder. Mathieu vermischt gekonnt verschiedene Sprachstile wie die rassistischen Äußerungen von Anthonys Familie und Jugendslang.

In der Folge entstehen Porträts von verschiedenen durchaus ambivalenten Charakteren, ohne dass es zu moralischen Einschüben kommt. Die Einbeziehung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Hintergründe verleiht dem Roman darüber hinaus weitere Tiefe. Getrieben von jugendlicher Energie testen die Figuren ständig ihre Grenzen aus. Dadurch, dass Mathieu immer wieder zwei Jahre Handlung und die damit verbundene Entwicklung auslässt und nur sehr spärlich preisgibt, gewinnt der Roman auch inhaltlich an Spannung. Der Roman formuliert keinen Vorwurf an die Politik, sondern zeichnet ein Gesellschaftspanorama, in dem die Jugendlichen zum einen durch ihre Herkunft und zum anderen durch ihr eigenes Denken gefangen sind.

Man fragte sich, was für ein Leben diese Leute in ihren ärmlichen Wohnungen führten, wo sie das ganze Fett in sich reinschaufelten und sich mit Glücksspiel und Seifenopern vergifteten, ständig neue Kinder und Unglück produzierend, verzweifelt, tobend, abgehängt.

Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu ist ein melancholischer Roman, der sich mit dem Schicksal von Kindern sozialer Absteiger in der französischen Provinz auseinandersetzt. Mathieu arbeitet seine Figuren voller Respekt und differenziert aus. Genauso gelungen sind die Darstellungen der gesellschaftlichen Hintergründe, die das Leben der Jugendlichen bestimmen. Ein Roman, der seine Leser mitreißt und großartiges Gesellschaftsporträt zeichnet.

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