John Lanchester – Die Mauer

LRM_EXPORT_493089022200238_20190811_141945800

John Lanchesters Roman Die Mauer fehlt es an Tiefe, um den Erwartungen gerecht zu werden.

Seit dem großen Wandel wird England vor einer Mauer umgeben, die die Anderen daran hindern soll, in das Land zu gelangen. Alle jungen Menschen müssen ihren Dienst auf der Mauer verrichten und sie gegen Endringlinge verteidigen. Einer der neuen Wächter ist Joseph Kavanagh. Der Dienst auf der Mauer ist hart, doch nach und nach wird seine Einheit zu seiner Familie und zu der jungen Frau Hifa fühlt er sich besonders hingezogen.

Sollten Andere ins Land gelangen, werden wiederum die verantwortlichen Wächter in gleicher Anzahl aufs Meer gebracht und dem sicheren Tod übergeben. Das Verhältnis zwischen der jungen Generation und ihren Eltern ist zerrüttet, da die Jungen den Älteren die Verantwortung für den großen Wandel und die Folgen anlasten. So ergeht es auch dem Ich-Erzähler Joseph Kavanagh, der in seiner Einheit an der Grenze eine Familie findet, die er zu Hause bei seinen Eltern nie hatte.

Der Dienst an der Mauer gestaltet sich allerdings wenig abwechslungsreich. Das größte Problem sind nicht etwa Angreifer, sondern die Kälte und die Langeweile während der zwölf-Stunden-Schicht. Was der große Wandel genau ist, wird dagegen nur angedeutet: Eine Klimakatastrophe, die zu einem Anstieg der Meeresspiegel um mehrere Meter geführt hat. Während in der Welt der absolute Notzustand herrscht, hat sich England mit der Mauer abgeschottet. Nur den Eliten ist es erlaubt, sich mit Flugzeugen außerhalb des Landes zu bewegen. Joseph träumt davon, dieser Schicht anzugehören.

Doch Prosa ist irreführend, wenn es um die Frage geht, wie es sich anfühlt und wie es einem vorkommt. Die Tage sind immer gleich, mit unterschiedlichen Wetterverhältnissen, der Ausblick ist immer gleich, mit unterschiedlichen Sichtverhältnissen, und die Menschen, die dich zu beiden Seiten umgeben, sind ebenfalls immer gleich. Das Ganze ist also statisch, es ist keine Geschichte. Es ist ein unveränderliches Bild mit ein paar Variablen.

Mit der Zeit entpuppt sich Jospeh, ebenso wie alle anderen Figuren, als schlichter Charakter mit wenig Tiefgang. Sachlich, ausführlich und ohne große Emotionen schildert er seinen Alltag an der Mauer und seine Ferien mit den Kameraden. Wenig erfährt der Leser dagegen über die politischen und gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen, die im Hintergrund abstrakt bleiben, ebenso wie die Situation außerhalb des Landes. Natürlich liegt es nahe, den Roman in Hinblick auf aktuelle und reale politische Fragen wie Brexit, Migration und Klimawandel zu lesen, aber dafür gibt er letztlich zu wenig her. Joseph wirkt nicht besonders politisch und zu der Welt, die ihn umgibt, hat er nur wenig zu sagen. Auch über einige andere Zusammenhänge wird der Leser im Unklaren gelassen. Was dagegen ständig wiederholt wird, besonders in der ersten Hälfte des Romans, ist die Langeweile und die Kälte, die an der Mauer herrschen. In wohl bewusst eher schlicht gehaltener Prosa erfahren wir einiges über zwei verschiedene Typen der Kälte und Möglichkeiten, die Zeit totzuschlagen, während Joseph stundenlang auf das leere Meer vor ihm starrt.

Spätestens nach der dritten Wiederholung habe ich es verstanden, dass es kalt und eintönig ist, auf der Mauer seinen Dienst leisten zu müssen. So gut das Szenario auf den ersten Blick wirken mag, macht der Autor viel zu wenig daraus. Das World-Building lässt zu viele Fragen offen, zumal Begrifflichkeiten wie Mauer, Verteidiger, Andere und Wandel sehr simpel und klischeehaft gehalten sind.

Auch darum geht es bei einer Geschichte – dass sie etwas ist, das jemand hören will. Doch mein Kopf war leer, und der einzige Gedanke, den ich fassen konnte, war: Sie will das ich ihr eine Geschichte erzähle, bei der am Ende alles gut wird. Ich sagte mir das in Gedanken immer und immer wieder, genau das ist eine Geschichte, etwas, bei dem am Ende alles gut wird, und dann ging mir ein Licht auf und das, was ich dann laut aussprach, das begann so: „Es ist kalt auf der Mauer.“

Das bedeutet nicht, dass es zu Die Mauer nichts Positives zu berichten gäbe. Anschaulich und atmosphärisch beschreibt er etwa das triste Leben an der Mauer, die elendig langen Stunden des Wachdienstes und die immer gleiche Sicht. Die hier herrschende Trostlosigkeit und das gespannte Warten auf eine mögliche Katastrophe werden in dem schlichten Stil transportiert und veranschaulicht. Aber der Roman erreicht nicht die Tiefe, die den Themen angemessen sind und bei einem renommierten Autor wie John Lanchester liegt die Erwartungshaltung auch höher.

Die Mauer konnte meine Erwartungen nicht erfüllen. Die eigentlich spannenden Themen werden bestenfalls oberflächlich abgehandelt, was auch an dem Ich-Erzähler und den anderen Figuren liegt, die mit denselben Problemen zu kämpfen haben. Immerhin stilistisch gelingt es dem Roman, die Eindrücke von Joseph zu vermitteln. Alles in allem kann die Dystopie nicht überzeugen und ist schnell wieder vergessen.

 

2 Kommentare

Add Yours

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..