Max Porter – Lanny

Max Porter Lanny Rezension

Max Porter ist zurück: Auch in seinem zweiten Roman Lanny verbindet er wieder exzeptionelles Storytelling mit mythologisch angehauchten Kreaturen, um seinen Lesern ein einzigartiges Erlebnis zu bieten.

In einem kleinen Dorf in der Nähe von London lebt Lanny mit seinen Eltern. Er ist ein merkwürdiger Junge, der in seiner eigenen Welt lebt. Als er bei dem älteren Künstler Pete Unterricht nimmt, freunden die beiden sich an. Doch kurz darauf verschwindet Lanny plötzlich spurlos. Hat Pete dem Jungen etwas angetan? Oder hat Altvater Schuppenwurz, ein alter Waldgeist, der schon seit jeher im Dorf lebt, seine knorrigen Finger im Spiel?

Er sinnt nicht Gutes, also singt er. Es klingt zäh-nichtig nach im Hochsommer poppenden Teerblasen. Für sein Grinsen braucht er eine klebrige Stunde. Er schwatzt einfältig näselnd den papier-mumifizierten Flügeldingen und Borkenkäferlingen vor, munterer nun, spricht zu den eignen Spuren vom letzten Jahr, zu den Mäusen und Lerchen, den Wühlern, dem Wild, seinem anheimelnden einstigen Selbst, so zyklisch verlässlich, Teil des ländlichen Lebenslaufs.

Max Porter, der mich schon mit seinem Erstling Trauer ist das Ding mit Federn begeistern konnte, hat auch dieses Mal wieder ein völlig außergewöhnliches Buch geschaffen, das unter allen Neuerscheinungen heraussticht. Seine Sprache, sein Stil, die gewählten Textformen sind allesamt sehr speziell und kreieren eine individuelle Aura und einen Charme, welche sich mit keinem anderen gegenwärtigen Autor vergleichen lassen.

Anfangs wird in alternierenden Kapiteln aus der Sicht von Lannys Mum Jolie, Lannys Dad Robert, dem verrückten Künstler Pete und Altvater Schuppenwurz die Geschichte erzählt, später gesellen sich Gesprächsfetzen und Gedanken aller Dorfbewohner hinzu. Schuppenwurz‘ Kapitel sind die formell wohl auffälligsten: er vernimmt die Stimmen der Menschen im Dorf wie einen Singsang, seine „englische Sinfonie“, er kostet ihre Sprache und ihre Worte aus, die Sätze verteilen sich über die Seiten wie Bildgedichte. Der letzte Teil des 200 Seiten kurzen Romans lässt Schuppenwurz in traumhaft-surreal anmutenden Sequenzen in das Leben von Robert, Jolie und Pete treten – Murakami lässt grüßen.

Er glaubt, unsere Seelen spalten sich ab und wandern eine Zeit herum und sehen die Dinge zum ersten Mal richtig. Er glaubt, wir sehen zum ersten Mal, wie alles wirklich ist, wie nahe wir den Pflanzen sind, wie alles miteinander zusammenhängt, und wir verstehen endlich, aber nur einen kurzen Moment. Wir sehen Formen und Muster, und es ist unglaublich schön, wie die beste Kunst aller Zeiten, Mathe und Naturwissenschaft und Musik und Gefühle in einem, alles ein großes Ganzes. Und dann lösen wir und einfach auf und werden Luft. Das ist sehr schön. Das gefällt mir gut als Aussicht.

Die Sprache des Romans ist ein einziges Feuerwerk. Porters Stil ist alles andere als konventionell, er spielt mit Worten, Bildern und Formen, erschafft eigensinnige aber vollkommen stimmige Metaphern und authentische Dialoge. Die Kakophonie der Dorfbewohner wirkt, trotz unzähliger Stimmen, niemals verwirrend, sie ist realistisch und sorgt dafür, dass der mittlere Teil ein ganz schönes Tempo vorlegt und die Suche nach Lanny einen eigentümlichen Sog entwickelt. Es ist eine reine Freude, zu lesen, was diesem kreativen und genialen Kopf entsprungen ist.

So kurz der Roman ist, werden dennoch viele Themen angesprochen: Schuld und Beschuldigungen, die Beziehung zwischen Mensch und Natur, Akzeptanz, Anderssein, elterliche Liebe und das Zusammenleben der Menschen an sich. Porter zeigt, wie schnell sich Menschen blind in etwas stürzen, sich beeinflussen lassen und regelrechte Hetzjagden starten, aber auch, wie ein Dorf als Organismus funktioniert – hier stehen sich die Natur und das Dorf als ähnliche und doch eigenständige Organismen gegenüber, die von Vater Schuppenwurz (die Schuppenwurz ist eine parasitäre Pflanze) gleichermaßen beeinflusst werden.

Wie können wir jemals auf etwas vertrauen? Wie können wir anderen Menschen unsere Kinder anvertrauen? Wie können wir uns selbst trauen? Wie in aller Welt konnten Menschen je in Gemeinschaften leben? Ich kniete mich auf den Übertritt und betete. Ich empfand tiefe Verzweiflung, mir schien, das vermisste Kind sei genau das, was wir verdienten, und verlorene Kinder die einzige Geschichte, die uns bliebe, und die Grausamkeit des Gedankens ließ mich würgen.

Max Porters neuer Roman Lanny ist schmal, aber vollgepackt mit stilistischen Abenteuern, authentischen Charakteren und einer völlig faszinierenden mythischen Figur. Sprachlich und formell wagt Porter wieder einmal Experimente, die wunderbar funktionieren: das Buch ist unglaublich schwer aus der Hand zu legen und so magisch-surreal und originell, dass man sich nach der Lektüre gar nicht sicher sein kann, auch wirklich alles daraus mitgenommen zu haben. Max Porter ist für mich ein Ausnahmetalent und ich bin sehr gespannt darauf, was noch von ihm folgen wird.

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  1. Schaurig schön und stimmungsvoll: 5 Bücher für den Herbst – Letusredsomebooks

    […] Lanny ist schmal, aber vollgepackt mit stilistischen Abenteuern, authentischen Charakteren und einer völlig faszinierenden mythischen Figur. Sprachlich und formell wagt Porter wieder einmal Experimente, die wunderbar funktionieren: das Buch ist unglaublich schwer aus der Hand zu legen und so magisch-surreal und originell, dass man sich nach der Lektüre gar nicht sicher sein kann, auch wirklich alles daraus mitgenommen zu haben. Der ideale Begleiter für kalte, regnerische Herbstabende. […]

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