Joshua Cohens Buch der Zahlen ist ein Roman zwischen Silicon-Valley-Geschichte, fiktiver Biographie und Menschen, die im Fluss der Daten ihre Identität verlieren. Oder, wie die FAZ schreibt, „The Circle für Menschen mit Gehirn“.
Am 11. September verliert ein Autor alles: Seine Frau verlässt ihn, der Buchladen, in dem er arbeitet, wird zerstört und sein Buch verkauft sich nicht. Die Rettung scheint ein äußerst lukrativer Auftrag zu sein. Er soll die Lebensgeschichte eines Mannes schreiben, der genauso heißt wie er. Dabei handelt es sich um den Großen Vorsitzenden der Firma Tetration, der dank eines Internetalgorithmus zum Milliardär geworden ist. Doch die Konkurrenz versucht alles, um ihm seine Erfindung zu stehlen, die einer globalen Überwachung gleicht.
Der Autor Joshua Cohen schreibt einen Roman über den fiktiven Autor Joshua Cohen, der eine fiktive Biographie über den Internetmogul Joshua Cohen schreiben soll. Klingt verwirrend? Ist es auch. Der Roman Buch der Zahlen handelt von zwei Männern im gleichen Alter, deren Leben kaum unterschiedlicher hätte verlaufen können. Der eine ist dank seiner Internetfirma Tetration Milliardär, der andere hält sich als Ghostwriter über Wasser, da sein eigener Roman keinen Erfolg hat. Finanzielle Rettung würde der Auftrag seines Namensvetters bringen, der ihn damit beauftragt, seine Memoiren zu verfassen. Der Roman spielt zwischen Tagebucheinträgen, Blogposts, Emails, Interviews und Erzählung. Ein vielstimmiges Werk, in dem bei weitem nicht immer klar ist, was eigentlich wahr ist und was nicht.
Der Milliardär wird im Allgemeinen vor allem als der Große Vorsitzende („Principal“) bezeichnet. Dabei spricht er von sich selbst immer nur in der ersten Person Plural. Das Buch ist dabei in drei Teile gegliedert (1-0-1), wobei der Große Vorsitzende vor allem im mittleren Teil bestimmend ist. Dabei hätte eigentlich jeder Teil für sich schon eine eigene Rezension verdient. Hier wird sein Aufstieg zum Milliardär, von seiner Kindheit, über das erste Interesse an Informatik, zur Gründung seiner eigenen Firma bis hin riesigen Erfolg nachgezeichnet. Der Autor geht dabei recht kreativ vor. Manche Absätze sind durchgestrichen, andere mit sarkastischen Kommentaren in eckigen Klammern versehen und manche mit Fragen oder Informationen, die der Schriftsteller noch nachschlagen oder überprüfen muss. Diese Aufzeichnungen gehen auf die Tonprotokolle der Interviews zwischen den beiden zurück.
Der Gedanke, dass menschliche Datenverarbeitung sich im Gegensatz zu jener der Computer nicht standardisieren ließ und dass sich daran nie etwas ändern würde, brachte Cohen auf die Palme. Es machte ihn wütend, dass Menschensprachen ein Programm nur beschreiben, aber nicht ausführen konnten und sich auf Metonymie, Analogie, Gleichnis und Metapher beschränken mussten.
Der Leser von Buch der Zahlen wird von Beginn an mit Informationen überschüttet. Die Themen sind dabei vielfältig: Religionen, Informatik, Digitalisierung, Beziehungen, Literatur, Holocaust, jüdische Geschichte und so weiter. Hier ist alles irgendwie miteinander verbunden. Dabei ist sind manche Abschnitte komisch gehalten, andere dagegen eher philosophische Reflexionen und wieder andere eher vulgär, sowohl im Ton als auch im Inhalt. Jeder der drei Abschnitte zeugt von einer ausgeprägten inhaltlichen als auch stilistischen Kreativität und ist voller skurriler Einfälle und Ideen.
Die Dichte von Informationen, Verweisen und Anspielungen macht es dem Leser aber nicht gerade einfach. Manche gedanklichen Sprünge wirken sehr assoziativ und viele Beschreibungen sind ohne Hintergrundwissen auch nicht leicht einzuordnen und in ihrer Gänze zu erfassen. Und ich glaube hier werden sich die Geister scheiden. Wem das zu viel ist, der wird sich kaum die Mühe machen und sich durch diese über 700 durchaus anstrengenden Seiten arbeiten und lesen. Wer aber generell schon Fan von Postmodernen-Romanen ist, wird wohl genau daran auch seine große Freude haben. Manche Passagen haben mich zum Beispiel sehr an Bleeding Edge von Thomas Pynchon erinnert.
Die Zukunft war uns immer voraus und wird es immer bleiben, aber sie dehnt sich auch hinter uns und zu unseren Seiten aus. Die Zukunft ist der Client, der Kunde, die Vergangenheit ist einfach auffindbar.
Und es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass Joshua Cohen, der fiktive Autor, eine Biographie über den Internetmogul und Entwickler von Algorithmen für das World Wide Web schreiben soll. Direkt auf den ersten Seiten macht er deutlich, wie sehr er das Papier liebt, die gebundenen Bücher und so lautet bereits der erste Satz: „Verpisst euch doch einfach, wenn ihr dies am Bildschirm lest!“ Aber auch der andere Joshua Cohen muss am Ende einsehen, dass er letztlich mit seiner Entwicklung und den daraus resultierenden Erfolg sich selbst und seine User verkauft hat. Verkauft an den Staat, Geheimdienste und private Unternehmen.
Nein, Buch der Zahlen liest sich nicht einfach und ist mit Sicherheit kein Buch für zwischendurch. Das heißt aber nicht, dass es nicht unterhaltsam wäre. Aber es ist eben auch fordernd. Es zeigt Menschen und ihre Identitäten, die in dem ganzen Datenstrom untergehen. Sicherlich eine Frage und ein Thema, das uns auch in der Realität beschäftigt und in Zukunft wohl noch an Bedeutung und Dringlichkeit gewinnen wird. Was bleibt dann noch von der Identität? Joshua Cohen hat sich dieses Themas angenommen, eine Antwort darauf findet er zwar nicht, dafür liefert er einen der für mich spannendsten Romane des Jahres, der auf vielen Ebenen funktioniert!
Hut ab und meinen Respekt für diese Lektüre und diese Besprechung. Das Buch ist mir schon in der Vorschau aufgefallen. Und ich bin noch immer neugierig darauf. Allerdings weiß ich, dass solche anspruchsvolle Romane die richtige Zeit für die Lektüre brauchen, vielleicht auch einen zweiten Anlauf. Aber zugleich liebe ich Herausforderungen. Viele Grüße
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Ein zweiter (dritter, vierter …) Anlauf ist Teil der Konzeption dieses Romans. Für mich ist es der bislang überzeugenste Versuch, Literatur und Internet gegeneinander auszuspielen und gleichzeitig unter einen Hut zu bringen. Cohen: „Old religion is print, new religion is the belief in technology.“ Diese „new technology“ (Google Algorithmen, Zufall, Vernetzung) nutzt Cohen auch für neue narratologische Strategien, zum Beispiel beim Entwickeln „fiktiver Charaktere“. Zuletzt hat er das in seinen Seminaren als Gastprofessor an der FU mit Studierenden erprobt. „Buch der Zahlen“ ist geradezu schwindelerregend vielschichtig, aber gleichzeitig umwerfend komisch und ironisch. Allein wegen der Szenen, die auf der Frankfurter Buchmesse spielen und die Mechanismen der internationalen „Buch-Industrie“ entlarven, lohnt sich die Lektüre. Ach, soviel wäre über diesen großartigen Roman noch zu sagen … Lies ihn einfach. lg_jochen
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Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Ich bin sehr gespannt darauf, wie der Roman bei einem zweiten Lesedurchgang wirkt, da werden mir bestimmt auch noch einige anderen Dinge auffallen. Und ja, über dieses Buch gibt es mit Sicherheit noch einiges zu sagen…
LG Alex
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„Das Buch der Zahlen“ steht schon so im Regal, dass mein Blick immer wieder darauf fällt. Ich schließe mich Constanze an und denke, dass der Roman etwas ist für besondere Lesesituationen – dass vor allem Zeit und Ruhe ganz notwendig sind, um etwas von der komplexen Machart nachvollziehen und genießen zu können. So wird der Roman im Sommer mit in die Berge reisen. Und jede Buchvorstellung, die ich lese, steigert dabei meine Neugierde auf die „Zahlen“.
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Ich denke genügend Ruhe und Zeit ist auf jeden Fall wichtig, um „Buch der Zahlen“ zu lesen. Aber auch eine sehr anspruchsvolle Urlaubslektüre ;)
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Für mich auch eines der Highlights des Jahres.
https://booksterhro.wordpress.com/2018/03/12/joshua-cohen-buch-der-zahlen/
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Es freut mich richtig zu hören, dass der Roman auch bei einigen anderen so gut angekommen ist. So bekommt „Buch der Zahlen“ hoffentlich die Aufmerksamkeit die es verdient hat.
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[…] Joshua Cohen hat mit Buch der Zahlen einen der für mich spannendsten und ambitioniertesten Romane des bisherigen Jahres vorgelegt. Anhand einer fiktiven Biographie beschäftigt er sich mit den Themen Daten, Internet, Identität und Literatur. Ja, der Roman ist voller Anspielungen, er ist manchmal sperrig, nicht einfach zu lesen und in manchen Zusammenhängen auch kompliziert. Aber dafür liefert er auch unheimlich viele Ideen, sowohl inhaltlich als auch stilistisch und wird seinen eigenen Ansprüchen absolut gerecht. Über Buch der Zahlen ließe sich so viel sagen, dass eine Rezension dafür eigentlich nicht ausreicht. Unsere Besprechung findet ihr hier. […]
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