Édouard Louis – Im Herzen der Gewalt

Im Herzen der Gewalt

Édouard Louis bietet seinen Lesern mit Im Herzen der Gewalt einen tiefen Einblick in seine Gedanken- und Gefühlswelt. Ein autobiografischer Roman über Gewalt und die Macht der Worte

Der Weihnachtsabend in Paris: Auf dem Place de la République begegnet Édouard auf dem Weg nach Hause einem jungen Mann. Eigentlich will er sich nicht aufhalten lassen und in ein Gespräch verwickeln lassen, doch der Fremde übt eine starke Anziehung auf ihn aus. Nach der spontanen Begegnung nimmt Édouard Reda mit in seine Wohnung. Was zunächst als Flirt beginnt entwickelt sich zu einer dramatischen Nacht, in der Édouard mit einer Waffe bedroht wird.

Wie schon sein Debütroman Das Ende von Eddy, ist auch das zweite Werk des französischen Schriftstellers Édouard Louis stark autobiografisch geprägt. Im Herzen der Gewalt ist alles, nur keine leichte Kost. Die Begegnung mit dem fremden Reda und die Ereignisse der darauffolgenden Nacht ändern das Leben von Édouard völlig. In seinem Roman rekonstruiert er die Geschehnisse, vom Kennenlernen bis hin zur anschließenden Anzeige bei der Polizei und medizinischen Untersuchungen. Der Mann, der Édouard auf dem Place de la République anspricht, stellt sich als Reda vor und legt großen Wert darauf, dass er ein Kabyle ist und kein Araber. Während die ersten Stunden zwischen den beiden für Édouard noch glücklich verlaufen, erzählt Reda die Geschichte seines Vaters. Dieser kam in den 60er Jahren aus Algerien nach Frankreich, wo er in einem Wohnheim untergebracht wurde und ständigem Rassismus und Gewalt ausgesetzt war. Auch die Nacht zwischen Reda und Édouard endet mit Gewalt: Reda vergewaltigt Édouard, würgt ihn und hält ihm eine Pistole an den Kopf.

[…] vor jener Nacht hatte ich mir immer eingebildet, dass ich angesichts einer Todesdrohung, sei es in einem brennenden Haus eingeschlossen oder im Handgemenge mit einem Mörder oder in welcher Situation auch immer, alles tun würde, um den Lauf der Dinge aufzuhalten, dass ich niemals aufgeben würde. Ich war überzeugt, dass der drohende Tod mir erlauben würde, Mut und Kräfte zu vervielfachen und eine besondere Kraft in mir zu entdecken, die Fähigkeit zu schreien, zu kämpfen, zu fliehen, zu rennen, zu ringen, etwas, das ich vorher nie in mir vermutet hätte. 

Schonungslos erzählt Édouard von der eigenen Vergewaltigung und den Auswirkungen der Nacht: wie er in Polizeiverhören und im Krankenhaus immer wieder das Geschehen erneut erzählen muss und ständig aufs Neue mit seinen Erinnerungen konfrontiert wird. Aber auch mit Vorurteilen, von denen er glaubte, sie längst hinter sich gelassen zu haben. Arabisch aussehende Männer und Schwarze stellen plötzlich eine Bedrohung für ihn dar. Das Buch erzählt die Ereignisse nicht chronologisch, sondern setzt am nächsten Morgen ein, während Édouard seine gesamte Wohnung putzt, um alles Spuren zu beseitigen. Auch die Spuren des eigenen Schmerzes und der Scham. Nach der Vergewaltigung fährt er zu seiner Schwester in die französische Provinz, in seine Heimat. Der Ort, vor dem er geflohen ist, der Ort, an dem er während seiner Jugend ebenso Gewalterfahrungen machte als junger Schwuler und Außenseiter, wurde er sowohl von seinen Eltern als auch den Mitschülern misshandelt.

Die Schwester, Clara, ist auch die eigentlich Erzählerin des Romans. Édouard ist hinter der Küchentür versteckt und belauscht ein Gespräch zwischen Clara und ihrem Mann, in dem Clara die Ereignisse widergibt. Eine Erzählsituation, in der Clara eine unzuverlässige Erzählerin ist, denn sie war beim eigentlichen Geschehen nicht dabei. Das führt dazu, dass sie immer wieder ihre eigene Einschätzung und Meinung zu Édouard, der Nacht und seinem Verhalten gibt und beim Erzählen in die Jugend ihres Bruders abschweift und nach Erklärungen sucht. Während des Belauschens fügt Édouard seine eigenen Gedanken und Korrekturen ein, wodurch nach und nach ein Bild der Nacht entsteht. Clara erzählt mit ihren eigenen Worten, teilweise falsch und mit voller Vorurteile sowie Vorwürfen, so dass Édouard sie ständig korrigieren muss. Dabei schwankt er zwischen Hilflosigkeit, Scham und Wut – bis zum Ende des Romans bleibt er versteckt.

Ich hielt inne, ich atmete tief durch, in Wirklichkeit schnüffelte ich, schnüffelte wie ein Tier, ich war zum Tier geworden bei der Suche nach diesem Geruch, der nicht verschwinden zu wollen schien, trotz all meiner Mühen, sein Geruch ging nicht weg, und ich schloss daraus, dass er an mir selber haftete, nicht am Bettzeug oder Möbeln. Das Problem kam aus mir. […] es war, als hätte Redas Geruch sich in mich hineingefressen, tief hinein, zwischen Fleisch und Epidermis, und ich kratzte mich am ganzen Körper, schliff meine Glieder ab, mit aller Kraft, besessen, um die tieferen Hautschichten zu erreichen, sie von seinem Geruch zu befreien, ich fluchte, verdammte Scheiße, aber der Geruch bliebt, verursachte mir immer stärkere Übelkeit und Schwindel.

Die Macht von Worten ist ein Thema, dass sich durch den gesamten Roman zieht. Édouard ringt darum, seine Gefühle ausdrücken zu können und wird von seinen Freunden dazu überredet, Anzeige zu erstatten. Das Gefühl, die Kontrolle über seine eigene Erzählung zu verlieren, verstärkt sich vor allem in den Gesprächen mit der Polizei, den Ärzten und den Therapeuten. Je mehr sie nachfragen, desto mehr wird die eigene Erfahrung für Édouard verfälscht und in eine andere Richtung gelenkt. Rassismus ist gerade beim erstatten der Anzeige ein immer wiederkehrendes Vorurteil.

Ich erkannte meine eigenen Erinnerungen nicht wieder, als ich sie schilderte; die Fragen der beiden Beamten zwangen mich, die Nacht mit Reda anders darzustellen, als ich es gewollt hätte, ich wusste, wenn es mit dem Bericht so weitergehen würde, dann würde es wegen ihrer Fragen oder wegen der Richtung, die sie mir aufdrängten, unmöglich, noch einmal zurückspulen.

Wie sich Édouard Louis hier präsentiert ist absolut offen und er lässt den Leser teilhaben an seinen Gefühlen. Diese Schwanken zwischen Angst, Wut, Scham und Trauer. Vieles von dem, was aus seiner Perspektive erzählt wird, klingt hektisch, sprunghaft und fast schon unstrukturiert. Die Struktur seines Lebens wurde ihm in der Nacht genommen. Gegenüber dem Leser verschweigt er scheinbar nichts und zeigt dabei schonungslos seinen psychischen Zustand. Im Herzen der Gewalt erzählt von Scham, Gewalt und Wut. Dass thematisieren der eigenen Vergewaltigung und die daraus resultierenden Veränderungen im Leben des Ich-Erzählers sind natürlich keine einfachen Themen für einen autobiografischen Roman und sind ebenso eine Herausforderung für die Leser. Édouard Louis geht mit sich selbst schonungslos um, offenbart sich dem Leser und zeigt sich an verschiedenen Stellen ungeschönt. Sperrig beim Lesen gestaltet sich auch die konstruierte Erzählsituation mit Clara. Doch gerade durch ihre Hinweise auf die Gewalt, die Édouard in seinem Heimatdorf ertragen hat, wird die Interpretation der Behörden in Paris infrage gestellt und zeigt, dass die Gewalt durch Reda nicht nach der Nacht einfach vorbei geht, sondern in einer anderen Form der Gewalt für Édouard immer weiter geht.

Édouard Louis autobiografischer Roman ist aufgrund seiner Thematiken und Offenheit sicherlich nicht für jeden Leser geeignet. Er zeichnet schonungslos ein Bild von sich selbst, seiner Angst, Scham und Wut und kämpft dabei mit der Macht der Worte und verschiedenen Formen von Gewalt. Ein ehrlicher Roman, der auch für seine Leser eine Herausforderung darstellt und feste Überzeugungen hinterfragt.

3 comments

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  1. Wortlichter

    Ich finde, dass das Buch ein wichtiges Thema behandelt, was in der Literatur noch viel zu wenig betrachtet wird.
    Besonders die männliche Perspektive von solchen traumatischen Erlebnissen, hört man ja sehr selten.

    Viele Grüße, Anja

    Gefällt 1 Person

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