Nicole Seiferts literaturwissenschaftliches Sachbuch Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt ist informativ, interessant und macht dabei unfassbar wütend.
Sogenannte „Frauenliteratur“ (Literatur von Autorinnen) wird oft in eine Schublade gesteckt: Seicht, irrelevant, nur für Leserinnen interessant. Auch heute noch. Seit Jahrhunderten meinen Männer, Frauen hätten nichts zu sagen und geben ihnen dementsprechend keinerlei Raum im literarischen Bereich. Sie wurden am Schreiben gehindert, nicht beachtet, nicht veröffentlicht, nicht in die Literaturkanons der Welt aufgenommen. In der Literaturkritik wurden und werden sie deutlich weniger und deutlich negativer besprochen und von der „Hochliteratur“ systematisch ausgeschlossen. The list goes on.
»Vergessen« ist in diesem Zusammenhang ein Euphemismus, denn tatsächlich geht es nicht um etwas Passives, nicht um etwas, das dem Literaturbetrieb unbewusst unterliefe. Tatsächlich sind es aktive Entscheidungen, ein Werk nicht zu lesen, es nicht zu besprechen, es nicht neu aufzulegen, es nicht in eine Literaturgeschichte aufzunehmen, es nicht zu lehren und es nicht in Kanonaufstellungen aufzunehmen. Es ist ein Akt des Unterlassens, des Ignorierens, der in jedem Fall eine Nichtwürdigung darstellt. Und der oft aus einer Voreingenommenheit resultiert, beispielsweise Themen gegenüber, die aufgrund eigener Privilegien irrelevant oder uninteressant erscheinen und als »unliterarisch« abgestempelt werden.
Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin Nicole Seifert (betreibt zudem den Literaturblog „Nacht und Tag„) hat mit Frauen Literatur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt hierzu ein sehr interessantes und geradezu erhellendes Sachbuch geliefert, das auch für mich als studierte Literaturwissenschaftlerin viele neue Fakten bereithielt und mir wieder einmal gezeigt hat, warum ich meine Studienfächer so spannend fand. Es beinhaltet reflektierte Beobachtungen literarischer Werke und ihrer Rezeption sowie der aktuellen Lage am Buchmarkt.
Ich muss gestehen, dass ich im Studium (BA in Anglistik und Spanisch, MA in allgemeiner und vergleichender Literaturwissenschaft) nicht wirklich wahrgenommen hatte, wie wenige Frauen überhaupt von der Literaturwissenschaft erfasst, betrachtet, erforscht und kanonisiert wurden – in der Anglistik ist es allerdings nicht ganz so extrem wie in der Germanistik und Romanistik.
Rückblickend ist es insbesondere in der spanischsprachigen Literatur krass – ich könnte an einer Hand abzählen, wie viele Autorinnen wir innerhalb dutzender Vorlesungen & Seminare besprochen haben. Dass der englischsprachige Literaturkanon vor einigen Jahrzehnten komplett überarbeitet wurde, darüber haben wir selbst im Studium nie gesprochen. Ein Schritt, der mehr als notwendig war und der in vielen anderen Teilen der Welt leider bis dato noch ausgeblieben ist. In Deutschland haben Leser*innen, Blogger*innen, Literaturwissenschaftler*innen und Journalist*innen zuletzt selbst aktiv werden müssen und mit Aktionen wie „Frauen zählen“, „#diekanon“ und auch „Autorinnenschuber“ zumindest teilweise für mehr Sichtbarkeit von Autorinnen sorgen können.
Mehr Literatur von Frauen zu lesen, von Schwarzen Menschen, von People of Color, von queeren und anderen marginalisierten Menschen wird an sich nichts an den beschriebenen strukturellen Missständen ändern. Aber es ist eine sehr gute Möglichkeit, das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und Schieflagen zu entwickeln oder zu schärfen. Durch die Geschlechts- und Farbenblindheit, die oft so selbstbewusst wie unreflektiert behauptet wird, werden immer wieder dieselben Gruppen bevorzugt, immer wieder dieselben Perspektiven wiederholt, und so werden auch immer wieder dieselben unsichtbar gemacht.
Seifert plädiert in ihrem Buch dafür, dass nicht nur Universitäten und Verlage aktiv werden müssen, sondern jede*r Leser*in einen eigenen Beitrag dazu leisten kann, die patriarchalen Strukturen im Literaturbetrieb wie auch in der Literaturrezeption zu verändern. In den letzten Jahren habe ich selbst genau das getan: Diverser gelesen. Halb bewusst / gezielt, um endlich mehr weibliche Stimmen zu lesen, halb aber auch, weil mich Bücher von Autoren momentan einfach nicht so ansprechen und mir nicht mehr so viel zu bieten haben. In diesem Jahr (es ist Mai) habe ich hauptsächlich Frauen gelesen – bisher habe ich erst 2 oder 3 Bücher von männlichen Autoren beendet.
Genau das ist übrigens diese Misogynie. Die tief verankerte Ablehnung und Abwertung des Weiblichen […] Man kann sie sich bewusst machen und dagegen angehen. Zum Beispiel, indem man mehr Bücher von Autorinnen liest, die Perspektive wechselt, hinhört, ernst nimmt.
Neben interessanter wie schockierender Statistiken liefert Nicole Seifert in Frauen Literatur auch einige Aussagen / Thesen männlicher Autoren, Philosophen, Literaturkritiker & Journalisten über das „weibliche Schreiben“. Mit dem Großteil dieser Zitate war ich tatsächlich nicht vertraut und sie haben mich ganz schön in Rage gebracht. Deshalb Achtung, auch wenn dieses wichtige und hervorragende Sachbuch eine nachdrücklicher Empfehlung für alle Leser*innen da draußen verdient: Besser nicht abends im Bett lesen – mit kochendem Blut lässt es sich wahrlich nur schwer einschlafen.
[…] und ein wichtiger Appell zu dringend benötigten Veränderungen. Hier könnt ihr mehr über Frauen.Literatur […]
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