Samanta Schweblin – Hundert Augen

Samanta Schweblin Hundert Augen Rezension

Samanta Schweblins Hundert Augen ist ein spannender und kurzweiliger dystopischer Roman, der unseren heutigen Umgang mit den sozialen Medien klug weiterspinnt, aber leider keinen dauerhaft bleibenden Eindruck hinterlässt.

Mehrere Männer, Frauen und Jugendliche, sowie zahlreiche kleine, mit Kameras ausgestattete Plüsch-Roboter namens Kentukis sind die Protagonisten in Schweblins Roman. Sie sitzen in Deutschland, Mexiko, Kanada. Diejenigen, die einen besitzen, teilen ihr Leben und ihren Alltag mit denjenigen, die auf der anderen Seite der Kentuki-Augen sitzen. Kentukis sind stumm, das bedeutet, es gibt keinen direkten Austausch, außer Besitzer und Beobachter tauschen Telefonnummern oder E-Mail-Adressen aus, oder erfinden ihr eigenes Kommunikationssystem. Das ist spannend für alle Beteiligten – führt nach und nach aber zu heiklen Situationen, ungeahnten Bindungen und großen Konflikten. Denn nicht alle User nutzen Kentukis, um neue Freundschaften zu schließen.

Samanta Schweblins Roman begleitet verschiedene Figuren, die sich alle entweder ein Kentuki zulegen, oder sich dazu entscheiden, mit einem der Wesen regelmäßig einen Fremden zu beobachten. Kentukis sind kleine, steuerbare Roboter im Form von Plüschtieren und haben mich ein wenig an Furbys erinnert. Wer sich einen Kentuki kauft, zeigt einem Menschen, der zufällig mit dem Wesen verbunden wird, Blicke in seinen Alltag und hat dadurch quasi ein pflegeleichteres Haustier, um das man sich nicht kümmern muss. Der Mensch am anderen Ende der Leitung kauft sich eine Kentuki-Verbindung und nimmt, ähnlich wie ein Social Media-Follower, eine passive Rolle des Beobachters ein.

Die Romanfiguren entscheiden sich aus unterschiedlichen Gründen für einen Kentuki oder eine Kentuki-Verbindung: viele von ihnen wollen einfach gegen die Einsamkeit in ihrem Leben ankämpfen, wie Emilia, die ein Kentuki von ihrem in Hongkong lebenden Sohn geschenkt bekommt, und ihm dadurch dadurch wieder näher kommt. Auch Alina hat kein eigenes Leben, sie reist nur mit ihrem Freund, der Künstler ist, umher und vertreibt sich irgendwie die Zeit, während sie ihre Wünsche, Bedürfnisse und Träume hinten anstellt. Da kommt ein Kentuki natürlich mehr als nur gelegen.

Emilia setzte sich aufrecht hin und rückte ihre Brille zurecht. Sie würde sich auf Erfurt konzentrieren und auf das Mädchen, das ihr Leben nicht richtig im Griff hatte. Um ihr eigenes Leben und das ihres Sohnes würde sie sich später kümmern, sie hatte schließlich alle Zeit der Welt.

Die Kentukis helfen den Menschen dabei, wie auch unsere normalen sozialen Medien, sich miteinander zu verbinden, sich nicht mehr allein zu fühlen. Marvin hat nach der Trennung seiner Eltern einen Kentuki bekommen und hat endlich wieder etwas, auf das er sich nach Schulschluss freuen kann. Jemand anderes lernt dank des Kentukis eine Fremdsprache, und ein Chinese verliebt sich in eine Frau aus Taipeh, als ihre Kentukis in Lyon aufeinandertreffen.

Doch auch negative Folgen bleiben nicht aus: Mehrere Jugendliche wollen mithilfe ihres Kentukis eine Mitschülerin erpressen, doch der Mensch auf der anderen Seite des Kentukis dreht den Spieß um und erpresst stattdessen eine von ihnen mit intimen Aufnahmen. Am anderen Ende der Welt versucht ein Mann mit dem Verkauf von Kentuki-Lizenzen illegal Geld zu verdienen, da seine Kunden sich so aussuchen können, was für ein Kentuki sie steuern, wo es lebt und wie interessant dessen Besitzer sind.

Marvin wusste, Freiheit bedeutete in der Welt der Kentukis nicht dasselbe wie in der realen Welt, aber das half einem auch nicht weiter, schließlich war die Welt der Kentukis auch real. Und er musste daran denken, dass er sich selbst ebenfalls nach Freiheit gesehnt hatte, ohne auch nur ein einziges Mal die Möglichkeit zu erwägen, sich selbst abzuschalten.

Schweblin stellt den gesamten Roman über zentrale Fragen: Müssen und können ihre Figuren Grenzen ziehen, Regeln aufstellen, ihre Kentukis einschränken? Ist es besser, mit seinem Kentuki zu kommunizieren oder anonym zu bleiben? Doch wozu, wenn man eh schon alles von sich preisgibt? Es ist spannend zu sehen, wie Bindungen entstehen, selbst ohne direkte Kommunikation. Auch Eifersucht, Kränkung, Pflicht- und Schuldbewusstsein entwickeln sich bei den Menschen, die einen Kentuki besitzen oder ihn steuern. Da ist es auch nicht mehr weit bis zu einem Missbrauch der Kentukis. Hier bewegen sich die Protagonisten in einer moralischen und rechtlichen Grauzone, da es eigentlich nur kleine Roboter sind und die Menschen dahinter jederzeit die Verbindung trennen könnten, wenn sie wollten.

Wenn man es schaffte, Schnee zu finden, und seinen Kentuki dann weit genug in einen dieser weißen, weichen Berge drückte, konnte man dort seinen Abdruck hinterlassen. Und das wäre, wie mit den eigenen Fingern das andere Ende der Welt zu berühren.

Der stellenweise verstörende Roman arbeitet mit einer interessanten Idee, ist kurzweilig und unterhaltsam. Eine recht weite Strecke lang dachte ich „Kann man lesen, macht Spaß, muss man aber nicht“ – doch das Ende hat mich ein bisschen an Schweblins morbiden Kurzgeschichten (Die Wahrheit über die Zukunft) erinnert und hat für mich das ganze Buch noch einmal ein Stückchen aufgewertet. Hier porträtiert sie die menschlichen Abgründe, die sich vorher schon angedeutet haben, in einem deutlich größeren Ausmaß und konnte mich damit noch einmal positiv überraschen.

Insgesamt ist der Roman eine herrliche Überspitzung unseres aktuellen Social Media Konsums: Wie viel geben wir von uns an Fremde preis, wo ziehen wir Grenzen? Wie sinnvoll ist es, fremde Menschen durch den Tag zu begleiten? Hilft es gegen Einsamkeit, verbindet es oder schafft es Raum für Kriminalität, Pädophilie und Obsession? Trotz der tollen Grundidee bleibt das Buch merkwürdig blass, vielleicht, weil weder Sprache noch Figuren besonders herausstechen.

Samanta Schweblins Buch Hundert Augen ist ein interessanter Roman, der auf einer tollen Idee basiert. Er ist gelungen umgesetzt, aber sowohl sprachlich als auch inhaltlich nicht wirklich bahnbrechend. Das Ende hat für mich zwar noch einmal eine Schippe drauf gesetzt, dennoch ist es kein Buch, das mich nachhaltig beeindrucken konnte und an das ich in ein paar Jahren begeistert zurückdenken werde – eher eine kurzweilige Lektüre für Zwischendurch, die im besten Fall dazu beiträgt, den eigenen Umgang mit Social Media zu überdenken.

1 Kommentar

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  1. Mikka Liest

    Hallo,

    ich habe inzwischen schon öfter gehört, dass der Roman das Potential seiner Grundidee leider nicht komplett ausschöpft. Dennoch würde ich gerne mal reinlesen und habe mir das eBook in der Onleihe schon mal auf die Warteliste gesetzt.

    LG,
    Mikka

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