Ein gekonntes Spiel mit Gegensätzen: Lawrence Osborne lässt in Denen man vergibt unterschiedliche Welten aufeinanderprallen.
Mitten in der marokkanischen Wüste haben Richard und Dally sich ein Zuhause geschaffen, in das sie regelmäßig Freunde und Bekannte zu ausschweifenden Partys einladen. Ein britisches Ehepaar macht sich angetrunken auf den Weg zu dem abgelegenen Anwesen und überfährt auf der Straße einen jungen Fossilienhändler. Auf der Party versuchen sie sich normal zu verhalten, bis der Vater des Toten auftaucht.
Der aus Großbritannien stammende Autor von Denen man vergibt, Lawrence Osborne, lässt seine Protagonisten in einem abgeschiedenen Dorf in Marokko eine Party feiern, die extravagant und völlig unpassend zum Ort gestaltet wird: Kokain, Champagner, Pool, Feuerwerk und weitere Besonderheiten mitten in der Wüste bei Temperaturen um die vierzig Grad. Das Ehepaar David und Jo sind auch eingeladen. Die Ehe zwischen dem Arzt und der Kinderbuchautorin ist vor allem von Streit geprägt. Auf dem Weg zur Party trinkt er Wein, es kommt zum Streit zwischen den beiden und David hält nicht an, als der Jugendliche mit dem Schild „Fossiles“ auf die Straße vor das Auto läuft. Was soll mit dem betrunkenen David geschehen, kann ihm vergeben werden? Während die Polizei schnell einlenkt und keine Ermittlungen beginnt, taucht unerwartet der Vater des Verstorbenen auf und fordert von David, mit ihm in sein Heimatdorf zu kommen.
In jedem Fall wäre eine Lüge des Engländers unverzeihlich, so viel stand fest. Eine Lüge wäre schlimmer als der eigentliche Unfall. Viel schlimmer, fand er. Denn während für einen Unfall niemand etwas kann, ist eine Lüge die konkrete Schuld eines Einzelnen, denn sie erfolgt vorsätzlich. Sie ist ein willentlicher Akt und darum schwerer zu verzeihen als alles andere.
Osborne entwirft einen letztlich einfachen Plot, in dem er Gegensätze aufeinanderprallen lässt und die Figuren so zu sich selbst finden können. Wer auf der Suche nach sympathischen Charakteren zur Identifizierung ist, wird hier wohl kaum fündig. Weder die reichen Teilnehmer der Party noch die einheimischen Marokkaner eignen sich dafür. David tritt auf wie ein Kolonialherr, der herablassend auf das Land und seine Bewohner blickt und dabei eigentlich immer nur an sich selbst denkt. Ständig wechselt der Autor die Erzählperspektive und bietet Innenansichten der verschiedenen Figuren, wodurch sich vielschichtige Situationen ergeben, die aus mehreren Blickwinkeln beobachtet und bewertet werden. Vertrauen gegenüber den Figuren ist dabei nicht angebracht.
Das verhandelte Thema der Schuld ist universell und nicht an den Schauplatz gebunden. Die Vorstellungen wie Schuld abzugelten sei, sind dabei jedoch völlig unterschiedlich. Während David davon ausgeht, sich mit Geld einfach freikaufen zu können, hat der Vater des Jungen ganz andere Vorstellungen. Zudem spielt der Kolonialismus im Hintergrund immer eine Rolle. Hier treffen dekadente Europäer und Amerikaner einer Partygesellschaft, die sich nur um die eigenen Genüsse kümmert, auf die Einheimische, die als Angestellte das Treiben der ‚Ungläubigen‘ zwischen Neugier und Abscheu beobachten. Einfache Einteilungen in Richtig oder Falsch, Gut oder Böse sind bei den Figuren jedoch nicht möglich. Völlig offen werden gegenseitige Abneigungen und Feindseligkeiten thematisiert, wobei beide Seiten sich mit Vorurteilen begegnen.
Sie widerten ihn an. Sie brachten alle ihre vorgefassten Urteile mit, die sie wie Leichen mit sich herumtrugen. Warum waren schlichte Neugier und die Freude am Reisen und einfacher Ortsveränderung so selten geworden? Im Grunde war es nur eine Frage der Fantasie. Es genügte, sich vorzustellen, wo man sich befand, anstatt seine nagende Unzufriedenheit und seine Marotten überallhin mitzuschleppen. Aber kaum einer schaffte das.
Den besonderen Reiz des Romans machen die bereits genannten Gegensätze aus, die sich nicht nur zwischen den Partygästen und Einheimischen auftun, sondern auch bei den unterschiedlichen Ansichten der verschiedenen Generationen. Exemplarisch wird das an der Geschichte des überfahrenen Jungen gezeigt, dessen Leben im Rückblick erzählt wird. Während sich seine Elterngeneration an einem traditionellen Ehrverständnis orientiert und ärmlich lebt, träumt er von Europa, Geld und Frauen. Um ihre Träume zu verwirklichen, werden die Jungen zu Verbrechern. Nicht nur hier offenbart Denen man vergibt eine seiner großen Stärken, nämlich die innere Zerrissenheit von Menschen aus verschiedenen Kulturen offen zu legen und gleichzeitig sensible und auf das Wesentliche reduzierte Porträts der Figuren zu erschaffen.
Unten in seinem Grab erinnerte sich sein Sohn an seine Vergangenheit, aber dort konnte keiner zu ihm, und so würden seine Rätsel verblassen und noch komplizierter werden, denn das Leben ist nur ein Spaß und ein Zeitvertreib, wie uns der Koran in Erinnerung ruft, und weil es nur ein Spiel ist und nichts weiter, vergisst man, dass der Sinn des Lebens der Tod ist.
Mit Denen man vergibt ist Lawrence Osborne ein großartiges Stück Literatur gelungen, das mit vielen Perspektiven und der universellen Frage nach Schuld seinen Lesern verschiedene Möglichkeiten der Lesart anbietet. Denn eigentlich ist der Roman schon nur als Porträt der missratenen Beziehung zwischen David und Jo absolut lesenswert, obwohl er darüber hinaus noch so viel mehr bietet und ein Highlight unter den Neuerscheinungen der letzten Jahre ist.
Ebenfalls positiv fiel die Rezension der Buchbloggerin aus, während ihr bei Literaturleuchtet eine kritische Besprechung, besonders in Bezug auf den Stil, findet.
Das Buch erinnert mich so ein bisschen an „Löwen wecken“, das ich noch nicht gelesen habe. Kennst du das Buch?
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Von dem Roman habe ich auch im Zusammenhang mit „Denen man vergibt“ gehört. Selbst habe ich ihn aber noch nicht gelesen, mein Interesse wurde aber geweckt.
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[…] beginnt, entwickelt sich nach und nach immer mehr wie ein Thriller. Bereits in seinem letzten Roman Denen man vergibt hat sich der Schriftsteller Lawrence Osborne mit menschlichen Abgründen auseinandergesetzt. In […]
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