Jaroslav Rudiš – Winterbergs letzte Reise

Jaroslav Rudis Winterbergs letzte Reise Rezension

Jaroslav Rudiš beschreibt in Winterbergs letzte Reise eine Bahnfahrt durch Mitteleuropa und seine Geschichte. Die eigentlich mehr als interessante Handlung leidet unter den ständigen Wiederholungen.

Der in Vimperk geborene Jan Kraus arbeitet als Altenpfleger in Berlin und begleitet schwerkranke Menschen während den letzten Tagen ihres Lebens. Warum er seine Heimat, die Tschechoslowakei, verlassen hat, ist sein Geheimnis. Einer seiner Patienten ist der 1918 geborene Wenzel Winterberg, der nach dem Krieg als Sudetendeutscher vertrieben wurde. Die Erzählungen von Kraus aus seiner Heimat holen ihn ins Leben zurück und wecken den Wunsch, eine letzte Eisenbahnreise zu unternehmen. Diese Fahrt führt die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas, über Berlin, Königgrätz und Prag bis nach Sarajevo.

Der Krankenpfleger Kraus unternimmt mit seinem Patienten eine Reise in die Vergangenheit. Mit seinem Roman Winterbergs letzte Reise, den er erstmals auf Deutsch geschrieben hat, beschäftigt sich Jaroslav Rudiš ambitioniert mit der jüngeren Historie Mitteleuropas. Winterberg ist bereits 99 Jahre alt und nun auf seiner letzten Eisenbahnfahrt. Hin und her reisen sie, ständig begleitet von Winterbergs altem Baedecker aus dem Jahr 1913, der sich mit der Region Österreich-Ungarn beschäftigt. Unermüdlich liest Winterberg daraus vor, obwohl er ihn längst auswendig kann und bittet Kraus, sich die wichtigsten Dinge zu merken, auch wenn sich die Umstände in den Städten und Dörfern längst verändert haben. Die beiden suchen geschichtsträchtige Orte auf, zu Beginn etwa Königgrätz. Denn Winterberg wird von „historischen Anfällen“ heimgesucht und redet unermüdlich auf Kraus ein, um ihm die Historie (immer wieder die Feuerhalle in Reichenberg) nahe zu bringen.

Immer wieder die gleichen Dörfer und Kleinstädte. Immer wieder die alten, wackeligen Gleise. Immer wieder der gleiche Gestank von der Braunkohle, wenn sich die Tür öffnete. Immer wieder die gleichen Menschen, die uns immer gleich anschauten. Ein wenig neugierig, weil wir Deutsch sprachen. Und ein wenig gleichgültig, weil wir Deutsch sprachen.

Der Roman hätte für mich wesentlich besser funktioniert, wenn Rudiš sich nicht ständig derselben stilistischen Wiederholungen bedienen würde. Was zunächst als Eigenheit erscheint, wird auf Dauer einfach nur ermüdend. Erzählt Winterberg Kraus aus seinem Leben, benutzt er dauernd „ja, ja“ und „lieber Herr Kraus“. Eine seiner weiteren Lieblingswendungen hat er sich von einem Engländer abgeschaut: „the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins“. Da sein Vater in einer Feuerhalle arbeitete, hat Winterberg von ihm gelernt, welche Leichen nicht schön sind. Auch dieses Wissen bringt er sehr häufig ein. Jetzt könnten diese Wiederholungen natürlich als gewolltes Mittel interpretiert werden, mit dem auch der Zustand Winterbergs beschrieben wird, auf Dauer sind sie aber nur nervig.

So braucht es einige Zeit (bei mir knapp die Hälfte des Romans, 250 Seiten), diesen Umstand zu akzeptieren und die eigentliche Handlung hinter dem ganzen Geschwafel wertschätzen zu können. Denn wie der Autor aus der europäischen Historie zwei ganz persönliche Lebensläufe entwickelt und miteinander verbindet, ist beeindruckend. Nach und nach kommen hier sehr intime Geschichten zum Vorschein, die immer wieder unter den Lesungen aus dem Baedecker und sonstigen Wiederholungen untergehen. Der Kontrast zwischen dem Gerede Winterbergs und den Andeutungen von Kraus ist groß. So entstehen aus dem Unscheinbaren doch bedeutende Erinnerungen.

Wir fuhren durch die Nacht und ich fühlte, wie ich mit der Stadt zusammenwuchs.
Mit der ganzen Geschichte.
Seite für Seite.
Jahr für Jahr.
Notiz für Notiz.
Geschichte für Geschichte.
Ereignis für Ereignis.
Ich fühlte, wie ich zu diesem Buch wurde.
Wie ich zu Winterberg wurde.

Die Idee von Jaroslav Rudiš, seine beiden Protagonisten in Winterbergs letzte Reise durch Mitteleuropa fahren zu lassen und die persönlichen Geschichten mit der europäischen zu verbinden, ist eigentlich ein Vorhaben, dass wie für mich gemacht ist. Dementsprechend hoch war auch die Erwartungshaltung. Wenn da nur nicht diese nervigen Wiederholungen dazwischen gekommen wären, würde das Urteil auch deutlich positiver ausfallen. So geht die Handlung über lange Abschnitte aufgrund des Geredes unter. Leider.

Weitere Rezensionen findet ihr bei Literaturleuchtet, Literaturreich und Frau Lehman liest.

2 comments

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  1. Esther

    Ich kreise schon seit Monaten um dieses Buch herum, lese aber immer wieder ähnliche Rezensionen, die mich vom Lesen abhalten. Ich glaube, ich lasse das lieber… danke für die Entscheidungshilfe 🙂

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