Donna Tartts zweiter Roman Der kleine Freund ist ein beklemmendes und atmosphärisch dichtes Porträt einer zerrütteten Familie, einer gespaltenen Kleinstadt in den Südstaaten – nicht ganz so herausragend wie ihr Erstling Die geheime Geschichte, aber dennoch ein starkes Stück Prosa.
Alexandria, eine Kleinstadt im Mississippi der Siebzigerjahre. Harriet lebt mit ihrer großen Schwester Allison, ihrer depressiven Mutter und dem schwarzen Hausmädchen Ida zusammen, nachdem ihr Bruder Robin vor zwölf Jahren als Neunjähriger einen schrecklichen Unfall hatte. Oder wurde er doch ermordet? In einem langen, heißen Sommer macht sich Harriet gemeinsam mit ihrem besten Freund Hely auf, den potenziellen Mörder Robins aufzuspüren.
Knapp 800 Seiten umfasst der zweite Roman Tartts, der sich nicht so ganz einfach einem einzigen Genre zuordnen lässt. Die Geschichte bewegt sich irgendwo zwischen Familienepos, Südstaatenroman und Kriminalgeschichte. Drogen und zerrüttete Familien spielen eine genauso wichtige Rolle wie die Diskrepanz zwischen armen und reichen Bürgern sowie zwischen Weißen und Schwarzen. Rednecks, die auf „Nigger“ schießen oder schwarze Haushälterinnen, die entlassen werden, weil sie angeblich nicht ordentlich arbeiten: Tartt zeigt einen traurigen Teil der amerikanischen Geschichte, der in noch nicht allzu großer Ferne liegt. Wie die Thematiken schon vermuten lassen, entsteht so eine ziemlich trostlose Atmosphäre. Unterstützt von Robins frühem Tod, ist es keine angenehme Umgebung, in der Harriet heranwächst.
Wenn Harriet sich später an diesen Tag erinnerte, kam er ihr vor wie der wissenschaftlich exakte Kristallisationspunkt, an dem ihr Leben ins Elend umgeschwenkt war. Sie war nie wirklich glücklich gewesen, aber auf die seltsamen Dunkelheiten, die jetzt vor ihr lagen, war sie doch nicht vorbereitet.
Was Donna Tartt, wie auch schon in ihrem zu Recht hochgelobten und gefeierten Erstlingswerk Die geheime Geschichte, besonders gut gelingt, ist die Ausarbeitung der Charaktere. In ihren Romanen existiert keine klare Aufteilung in Gut und Böse, alle Protagonisten sind vielfältig und ambivalent. So nervtötend und unsympathisch Harriets bester Freund Hely auch sein mag, möchte man als Leser doch nicht, dass ihm etwas geschieht. Auch die Tanten des Mädchens, ganz besonders Edie, sind zwar auf der einen Seite sehr liebenswürdig, auf der anderen Seite aber auch das ziemliche Gegenteil. Danny, der mit Drogen handelt und schon mehrfache Gefängnisstrafen abbüßen musste, ist einem doch irgendwie sympathisch, gerade im Kontext seiner schwierigen Familiensituation betrachtet. Und Harriet, die Figur, die den Lesern vermutlich noch am Nächsten steht, fällt immer wieder durch ihren Starrsinn, ihre Verbissenheit und ihre blinde Wut auf. Alle Charaktere tragen eine dunkle Seite in sich, alle von ihnen müssen mit irgendeiner Art von Schuld leben, die ihr Dasein erschwert.
Ja, selbst Hely kam ihr jetzt vor wie etwas, das verloren war oder bald verloren sein würde, etwas Vergängliches wie Gewitterwürmchen oder Sommer. Das Licht in der schmalen Diele war jetzt fast völlig verschwunden. Und ohne dass Helys Stimme, so blechern und leise sie auch gewesen war, die Düsternis aufhellte, wurde ihre Trauer immer schwärzer und rauschte tosend heran wie ein Wasserfall.
Viel geschieht nicht in Der kleine Freund, die Geschichte schreitet in einem sehr gemächlichen Tempo voran, es gibt keine Action und keine sich überstürzenden Ereignisse. Dennoch gelingt es der Autorin, den gesamten Roman über eine gewisse Spannung aufrecht zu erhalten. Es ist vor allem die trostlose, beklemmende Atmosphäre, die Tartt gekonnt konstruiert und zum Einsatz bringt. Selbst wenn das Buch noch 300 Seiten länger wäre, hätte ich es trotz überschaubarer Handlung immer noch geliebt – Tartt weiß, wie sie Sprache einsetzen kann und muss, um ihre Leser in ihre Welt eintauchen zu lassen und den trockenen, warmen Wind Mississippis auf der Haut spüren zu lassen.
Dennoch: an ihr Debüt Die geheime Geschichte kann Tartt mit diesem Roman nicht heranreichen. Das liegt zum Einen an dem Ende, welches sich nach all den Seiten der Jagd nach Robins Mörder recht unbefriedigend anfühlt. Es ist nicht das, was man als Leser unbedingt erwartet hat. Nach einigem Stöbern im Internet (insbesondere auf Goodreads) wurde mir klar, dass es ziemlich vielen Lesern so ging – und dass diese aber zum Teil sehr interessante Gedankengänge bezüglich des Endes haben. Zum Anderen ist Der kleine Freund zwar ein durchaus sehr gutes Buch, Die geheime Geschichte jedoch ist für mich der Inbegriff des perfekten Romans. Vergleichen lassen die beiden sich kaum, und aneinander messen ebenfalls nicht.
Sprachlich exquisit, atmosphärisch dicht und gewohnt düster erzählt Donna Tartt in Der kleine Freund die Geschichte eines Mädchens, das den Mörder ihres Bruders sucht. Die Charakterzeichnungen der Autorin sind wunderbar vielfältig und lebendig und die Themen Schuld und Vergangenheit ziehen sich durch das Buch, das Südstaatenroman und Familiengeschichte zugleich ist. Einzig das Ende möchte nicht so ganz mit dem sonst so hohen Niveau des Werks mithalten und konnte mich nicht wirklich zufrieden stellen. Dennoch ist es für mich ein weiterer, starker Roman von Donna Tartt, der ihr Talent und ihre Stärken voll und ganz zum Ausdruck bringt.