Benjamin von Stuckrad-Barre ist zurück mit seinem neuen Buch Ich glaub‘ mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen – Remix 3.
In seinem aktuellen Werk folgt der Popliterat berühmten Persönlichkeiten wie Boris Becker, Madonna, Ferdinand von Schirach, Helmut Dietl, Rainald Goetz, Jan Hofer und Axel Springer, beobachtet und analysiert sie mit scharfem Auge und manchmal noch schärferer Zunge. Er berichtet von der WM 2010, einer typischen Redaktionskonferenz, von der Berlinale und natürlich, wie schon in Panikherz, vom Sunset Boulevard. Stuckrad-Barre, einer der besten Chronisten unserer Zeit, unserer Gesellschaft, unserer Popkultur und unserer Ikonen – doch ist das immer noch der Fall?
Wir erinnern uns ja an das Große immer mittels Lappalien, sie sind die Enterhaken im Gehirn.
Was ich wirklich schade finde, ist dass es wenige WIRKLICH aktuelle Texte in Remix 3 gibt. Die Boris Becker-Reportage beispielsweise erschien 2010 in der WELT, auch der Text über die WM ist aus diesem Jahr. Die neueren Kapitel sind aus den Jahren 2013 und 2015.
Ebenso geht es um ältere „Ikonen“, die porträtiert werden. Jürgen Fliege kenne ich nicht, Helmut Dietl auch nur aus Stuckrad-Barres letztem Buch Panikherz, auch nicht Walter Kempowski oder Thomas Bernhard. Boris Becker und Madonna ja, immerhin, auch Christian Ulmen und Ferdinand von Schirach, aber allgemein scheint das Alter der Prominenten recht hoch zu sein.
Vielleicht bin ich in dieser Hinsicht einfach ein wenig zu jung für diesen Band Remix – da sich im Gegensatz zum ersten Band die meisten Texte auch mit wirklichen Persönlichkeiten beschäftigen, die allerdings alle ihren Höhepunkt vor meiner Zeit hatten, finde ich sie zwar meistens interessant (manchmal auch nicht so wie im Fall von Kempowski), habe aber persönlich nicht immer Berührungspunkte gefunden.
Sie bringt uns spanisch zählen bei. Warum? Völlig falsche Frage. Uno, dos, tres. Und: Cuatro, motherfuckers (motherfuckers = fünf?).
Dabei fand ich besonders die Kapitel, die sich nicht direkt auf Prominente fokussieren, wie das über die Tattoos, die WM oder das über Pharrell Williams Song „Happy“ richtig genial. Sie sind doch wieder allgemeingültiger, spiegeln unsere Gesellschaft und Popkultur perfekt wieder und sind somit für mich persönlich besser nachzuvollziehen und bedeutungsvoller. Hier ist Stuckrad-Barre wieder auf seinem Höhepunkt, so wie man ihn kennt und liebt.
Es gibt keine Fehler, denn Uwe selbst ist der Fehler, der Betriebsunfall des deutschen Mediengeweses, die unschöne Fratze der Aufklärung. Das Befremden, ja, der Ekel, auch der Protest, den Uwe auszulösen vermag, ist das Erschaudern beim Erblicken der menschgewordenen Konsequenz des hirnverpesteten Schwachsinns, der hierzulande tapfer PROGRAMMVIELFALT genannt wird. Für all das ist Uwe Wöllner die gerechte Strafe.
Auch wenn mich nicht alle Persönlichkeiten aus Ich glaub‘ mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen gleichermaßen interessieren und faszinieren konnten, muss ich gestehen, dass Stuckrad-Barre mit der Zeit kein bisschen schwächer geworden ist oder nachgelassen hat. Er kann immer noch schreiben, er kann immer noch unterhalten und wüste Wortkonstrukte bilden. Sprachlich besonders stark sind meiner Meinung nach die Kapitel „Tattoos“ und „Madonna live in L.A.“, weitere Highlights die über Christian Ulmen als Uwe Wöllner und Axel Springer am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
Ja, Stuckrad-Barre ist immer noch ein hervorragender Chronist, Journalist und Autor. Da hat sich nichts geändert. Von seinem nächsten Remix, der hoffentlich irgendwann erscheint, würde ich mir lediglich ein bisschen mehr Aktualität erhoffen – weniger alte deutsche Männer, dafür aber mehr Gucci Gang, Heidi Klum und Instagram, so wie bei seiner Lesung.
Benjamin von Stuckrad-Barre in der Zeche Bochum
Gestern Abend war es endlich so weit: nach so vielen Jahren des Stuckrad-Barre-Lesens endlich die erste Lesung, das erste Mal Stuckiman live erleben.
Die Lesung ausverkauft, die Zeche schön schummrig, mit blauen Bänken für das Publikum, passend zum Buchcover und zu der Leinwand hinter dem Lesepult, an die in blauen Buchstaben „REMIX 3“ gestrahlt wird. Das Licht erlischt, Musik ertönt – ein Remix des Songs „Gucci Gang“ von Lil Pump. Es wird wieder heller, Stuckrad-Barre tritt auf die Bühne, nicht wie ein Schriftsteller, sondern wie ein Rockstar. Ein Rockstar im weißen Matrosenanzug. Schon hier bin ich mir sicher: das wird unglaublich geil.
Stuckrad-Barre – Journalist, Autor, Performer, Rampensau. Nachdem er mit Händen, Füßen und Kinn enorm umständlich versucht, seine Flagge vom Noel Gallagher-Konzert am Lesepult zu befestigen („Ist schon praktischer, wenn man Joko UND Klaas ist“), geht es los, Kippe in der Hand, Wässerchen neben sich und immer die ironischen Bekundungen, das Fiege-Plöpp beim Öffnen der Bierflaschen im Publikum wäre ja schon gemein aber eigentlich ist es ja auch mit Wasser super lustig.
Stuckrad-Barre liest, macht Witze, hampelt ein wenig herum und ist hektisch und fahrig, er erzählt Anekdoten von seinem kleinen Sohn und von Heidi Klum auf Michael Michalskys Geburtstagsparty im Chateau Marmont, er rappt „Gucci Gang“ als er ein Foto für „Insta“ schießt und in diesem Moment bin ich ganz knapp davor, mich fremdzuschämen, aber irgendwie geht es doch, irgendwie darf er das, kann er das. Stuckiman bewegt sich öfter mal an der Grenze zu „too much“, aber gerade das macht ihn aus, ihn als Entertainer und seine Lesung, oder besser gesagt Performance.
Letzte Woche war Stuckrad-Barre zu Gast im „Kölner Treff“ (los geht es bei 01:00:00), wo Bettina Böttinger ihn kritisierte, dass er bis auf Madonna in seinem neuen Buch nur männliche Prominente porträtiert. Darauf reagiert das Allroundtalent jetzt in dieser Lesung und entscheidet sich dazu, das Kapitel vom Madonna-Konzert vorzulesen. Und Madonna durch Bettina Böttinger auszutauschen. So hören wir also Sätze wie „Als Heterosexueller beim Böttinger-Konzert, das ist natürlich eine einsame Angelegenheit. Alle tragen Tüllröcke (die Frauen natürlich nicht)“ oder „Jetzt fickt Bettina Böttinger den Boden, dann einen Ventilator“. Das Publikum johlt begeistert. War es vor der Lesung schon eines meiner liebsten Kapitel des neuen Buchs, ist die Geschichte nun noch grandioser.
Ganz am Ende, die Lesung ist vorbei, das Publikum bereit, wieder in die richtige Welt entlassen zu werden, da geht noch einmal die Musik an, ganz laut, und Stuckrad-Barre singt für seine Fans in bester Klaas Heufer-Umlauf-Manier Robbie Williams‘ Song „Angels“ – inklusive anmutig durch die Reihen schreiten, das Publikum den Refrain brüllen lassen und dramatischem Kniefall. Noch besser gepasst hätte eigentlich nur „Let me entertain you“ und auch eine Tiger-Unterhose à la Robbie hätte heute Abend niemanden mehr gewundert.
Als ich Zuhause ankomme, bin ich immer noch ganz unruhig von all der Reizüberflutung. Was für ein Ritt, was für ein Trip! So viele Gedanken schwirren mir durch den Kopf und ich weiß jetzt schon, dass es unglaublich schwer wird, diese Lesung in Worte zu fassen – man muss es einfach selbst erleben. Denn das war es vor allen Dingen: ein Erlebnis.
Schöne umfassende Rezension, die mir gut gefallen hat und ich verstehe auch die Kritik von den alten Männern, die in den Texten vorkommen. Jürgen Fliege kennt man noch aus der Zeit als man Fernsehen guckte, aber eine Sache ist mir nicht ganz klar. Ihr seid Literaturstudentinnen und kennt Thomas Bernhard nicht? Das solltet ihr auf jeden Fall nachholen.
Das heißt aber nicht, dass es eine Leseempfehlung ist, sondern wahrscheinlich versteht ihr dann besser, warum Stuckrad-Barres Zunge dann etwas spitzer wird.
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Danke, das freut mich sehr!
Ja, tatsächlich ist mir Bernhard im Komparatistikstudium nicht begegnet, aber auch in der normalen Germanistik taucht er laut Alex in keiner Überblicksvorlesung und auch in keinem Seminar auf. Und privat liegt mein Interesse eher bei aktuellerer deutschsprachiger Literatur und im Ausland. ;)
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Ich habe es mal mit ihm versucht, weil eine Freundin von mir absoluter Fan ist und sogar mal in den Ferien im Thomas-Bernhard-Archiv gearbeitet (Praktikum??) hat, aber ich wurde nicht so recht warm mit ihm. Da bin ich ganz bei dir. Ausland und aktuelles gefällt mir meist auch besser.
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[…] In seinem dritten Band Remix mit dem unglaublich langen aber fabulösen Titel geht es unter anderem um Boris Becker, Madonna, Christian Ulmen, Ferdinand von Schirach, Axel Springer, Tattos, Pharrell Williams Hit-Song „Happy“ und noch viel viel mehr. Hier beweist Stuckrad-Barre, dass er keinerlei Können eingebüßt hat und immer noch einer der akkuratesten und unterhaltsamsten Chronisten Deutschlands ist. Mir war das Buch allerdings ein wenig zu inaktuell und mit zu vielen älteren Herren im Fokus. Ein bisschen mehr zu dem Buch aber vor allem auch zur völlig abgedrehten Lesung in Bochum verrate ich in diesem Beitrag. […]
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