Alte Männer als Aussteiger im Norden Kanadas
Drei Männer leben tief zurückgezogen in den weiten Wäldern im Norden Kanadas. Alle drei suchen hier ihre Freiheit. Ihre Ruhe wird eines Tages jäh gestört, als eine Fotografin zu ihnen stößt, die auf der Suche nach einem Überlebenden der großen Brände ist, der Boychuck heißen soll. Und kurze Zeit später taucht auch noch eine achtzigjährige eigensinnige Dame auf. Beide Frauen bleiben und während sie nach und nach Boychucks Vermächtnis nachgehen, entsteht in der kleinen Gemeinschaft etwas, das niemand für möglich gehalten hätte.
In ihrem Roman Ein Leben mehr erzählt die Autorin Jocelyne Saucier von drei Männern, die alle aus verschiedenen Gründen aus ihrem „normalen“ Leben ausgestiegen sind und nun in den Tiefen der kanadischen Wälder in selbstgebauten Hütten in einfachsten Verhältnissen leben. Die Hütten sind in der Nähe eines Sees gebaut, weit genug voneinander entfernt, dass sie sich nicht sehen können, aber immer noch so nah, dass der tägliche Besuch kein Problem darstellt. Kontakt zur Außenwelt halten sie über zwei jüngere Männer, die in der Nähe eine Hanfplantage betreiben. Ansonsten leben sie in der Natur als Aussteiger, denen das Leben da draußen zu schnell geworden ist und sind Selbstversorger. Das höchste Gut, das die über achtzigjährige Männer haben, ist ihre Freiheit.
Die alten Männer würden aus allen Wolken fallen, wenn man sie fragen würde, ob sie glücklich sind. Sie müssen nicht glücklich sein, Hauptsache, sie sind frei. Angst haben sie nur vor den Sozialarbeiterinnen dieser Welt und davor, ihre Freiheit zu verlieren. Das war auch Toms Antwort, als ich ihn fragte, was ihn an diesen gottverlassenen Ort geführt hatte.
Die Ruhe der Männer wird ausgerechnet von einer Frau gestört, die sich für ihre Geschichte interessiert. Die Fotografin ist auf der Suche nach einem Mann mit Namen Boychuck, der einer der letzten Überlebenden der großen Brände zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist. Doch bei ihrer Ankunft muss sie feststellen, dass die alten Männer nur noch zu zweit leben, der dritte, Boychuck, ist gestorben – einfach weil er alt war. Statt einfach ihrer Wege zu gehen, interessiert sich die Fotografin für die Geschichte der beiden anderen, Tom und Charlie. Doch damit nicht genug, stößt auch noch eine alte Dame zu ihnen, die ihr Leben unschuldig in einer Psychiatrie verbracht hat zu ihnen und nun mit achtzig Jahren zum ersten Mal selbst über sich bestimmen kann und nun als Marie-Desneige selbstbestimmt in der Natur lebt. Für sie wird extra eine Hütte gebaut, die mehr Komfort bietet und statt eines Hundes wünscht sie sich einen Kater als Haustier.
Marie-Desneiges Ankunft ist auch für die Fotografin ein Glücksfall. Denn mithilfe der alten Dame kann sie nun die Gemälde deuten, die in Massen in Boychucks Hütte gefunden wurden und mit deren Hilfe er die Erlebnisse während der großen Brände verarbeitet hat. Die Bilder erzählen seine Geschichte, die Geschichte, welche die Fotografin gesucht hat. Die Bilder sind das Vermächtnis, das er der Welt hinterlassen hat.
Jocelyne Saucier, die selbst in einem Zehn-Seelen-Dorf im nördlichen Québec lebt, zeigt ein gutes Gespür für ihre Charaktere und die Natur, in der sie leben. Die alten Männer, die seit Jahren in der Wildnis leben, ihre Gewohnheiten, ihre vom Leben und dem Alter gezeichneten Körper schildert sie einfühlsam, aber auch mit all ihren Entbehrungen mit der nötigen Distanz. Und obwohl die Natur mit all ihrer Schönheit beschrieben wird, erscheint sie gleichzeitig in den harten Wintern und vor allem während den großen Bränden als gefährlich und unkontrollierbar. Ebenso gelungen sind die Schilderungen der Gemeinschaft und ihrer Bedeutung. Jede Veränderung, und sei sie noch so klein, ist in diesem Rahmen von Bedeutung. Mit Ein Leben mehr hat Jocelyne Saucier einen Roman geschaffen, der vom Glück, der Freiheit, der Liebe auch im hohen Alter sowie der Schönheit als auch den Schrecken der Natur handelt und dabei souverän mit seinen Themen umgeht. Dabei begeht die Autorin nicht den Fehler, in den Kitsch zu verfallen, sondern stellt das Leben der Männer, der alten Dame und das der Gemeinschaft in all seinen Facetten dar.
Nördlich des neunundvierzigsten Breitengrads geschieht alles etwas langsamer. Jeden Morgen hieven Tom und Charlie ihre müden Knochen aus dem Bett, strecken die schmerzenden Glieder, tappen zum Ofen, entzünden ein Feuer und braten sich Kartoffeln mit Speck. Dann sitzen sie am Feuer und begrüßen den neuen Tag. Ob die Sonne scheint oder es schneit, es ist ein schöner Moment, denn es gibt immer was zu beobachten, den Schnee, die Sonne, den Wind, eine Hasenspur, eine vorbeifliegende Krähe, das erwachende Leben, nichts, was sie nicht kennen. Nach den Bratkartoffeln mit Speck und dem gezuckerten Tee kommt die erste Zigarette und mit ihr der erste richte Gedanke des Tages. Vorher tut sich nicht viel in ihrem Kopf. Sie brauchen den Nikotinstoß, damit ihr Gehirn in Gang kommt.
Ehrlich und ohne Kitsch erzählt
Ein Leben mehr handelt von alten Männern und Frauen, die sich entschließen, auszusteigen und ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit in der Natur zu leben. Jocelyne Saucier verzichtet zum Glück darauf, das Leben in der Wildnis zu romantisieren, sondern stellt die Gemeinschaft mit all ihren Problemen und Entwicklungen dar. Ein gelungener Roman, der ein feines Gespür für das Zwischenmenschliche beweist und mit seinen alten Aussteigern ungewöhnliche Protagonisten präsentiert.
Wunderbar! Hab es auch vor zwei Wochen gelesen und es hat mich sehr berührt. Vielen Dank für die schöne Rezi!
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