Zwischen Elend, Gewalt, Hoffnung und tiefer Zuneigung: Douglas Stuarts Debütroman Shuggie Bain über eine verzweifelte Mutter-Sohn-Beziehung geht nahe und bleibt noch lange in Erinnerung.
Umgeben von der Armut einer Arbeiterfamilie ist Shuggie anders: zart, gefühlvoll und feminin. Er wächst in den 80er Jahren in Glasgow auf, wo die Wirtschaftskrise allgegenwärtig ist. Seine Mutter ist die einzige, die ihn zu verstehen scheint. Sie trotzt der grauen Wirklichkeit durch auffälliges Makeup und glamouröse Kleidung – und sucht immer mehr Zuflucht im Alkohol. Shuggies Ziel ist es, sie zu beschützen, mit unerschütterlicher Liebe und großer Hingabe. Eine Aufgabe, an der letztlich scheitern muss.
Bereits das erste Kapitel macht deutlich, dass Shuggie Bain keine leichte Kost ist. Der titelgebende Shuggie lebt 1992 als 16-jähriger alleine und arbeitet in einem Supermarkt, deren Besitzer Minderjährige ausbeutet. Der Roman erzählt rückblickend die Geschichte des Jungen. Aufgrund der Wirtschaftspolitik in den 80ern verlieren viele ihre Arbeit und rutschen gesellschaftlich ab. Trotz der Umstände träumt Shuggies Mutter, Agnes, von einem besseren Leben. Sie verlässt ihren Ehemann für Shuggies Vater, den Taxifahrer Shug Bain, der ihr gegenüber gewalttätig wird, fremdgeht und sie schließlich mit ihren drei Kindern in einem heruntergekommenen Arbeitervorort Glasgows sitzen lässt.
She had loved him, and he had needed to break her completely to leave her for good. Agnes Bain was too rare a thing to let someone else love. It wouldn’t do to leave pieces of her for another man to collect and repair later.
Was folgt ist eine Geschichte von Armut, Abhängigkeit und Missbrauch – aber auch von einer tragischen Liebe zwischen Mutter und Sohn. Shuggie, ihr jüngstes Kind, versucht alles, um sie vor sich selbst und den immer schlechteren Männern zu beschützen. Shuggie und sein Bruder müssen lernen, ihre Mutter nach einer durchtrunkenen Nacht ins Bett zu bringen und auszuziehen, dabei die ihr zugefügten Verletzungen übersehen und Erbrochenes zu beseitigen. Immer wieder wird Agnes Opfer von verschiedenen Männern und versinkt dabei immer tiefer in ihrer Alkoholsucht, vor der Shuggie sie nicht retten kann. Die bedingungslose Liebe, die Shuggie seiner Mutter entgegenbringt, grenzt an Selbstaufgabe, trotz der ständigen Enttäuschungen, die er erleben muss. Diese eindringliche und schonungslose Schilderung einer eigentlich toxischen Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist nicht nur tieftraurig und bewegend, sondern zeigt auch das tiefe Verständnis des Autors für die Welt eines Kindes, dessen Mutter alkoholabhängig ist. Seine eigene Mutter starb an Alkoholsucht als er 16 Jahre alt war, insofern ist der Roman auch autobiografisch geprägt.
Everyday with the make-up on and her hair done, she climbed out of her grave and held her head high. When she had disgraced herself with drink, she got up the next day, put on her best coat, and faced the world. When her belly was empty and her weans were hungry, she did her hair and let the world think otherwise.
Doch Shuggie muss sich nicht nur mit seiner alkoholkranken Mutter auseinandersetzen und sich um sie kümmern. Als Junge, der sich gefühlvoll äußert, wird er von seinen Mitschülern gemobbt und ausgeschlossen. Am Tag ihrer Ankunft im Vorort sagt er zu seiner Mutter: „I really do not think I can live here. It smells like cabbages and batteries. It’s simply impossible.“ Und während die Nachbarn schon wissen, was er ist, muss er es noch herausfinden. Mit der Zeit versteht er seine angebliche „Andersartigkeit“ immer mehr und findet seine eigene Identität.
Sozialstudie, Coming-of-Age, Familiengeschichte – Shuggie Bain verbindet unterschiedliche Themen, zu einem großartigen, wenn natürlich auch harten und herausfordernden Roman. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Sprache und die Sympathie, die Douglas Stuart seinen Figuren entgegenbringt. Er behält eine stetige Balance zwischen dem Leid, das die Figuren ertragen müssen, sich selbst und anderen zufügen, und einer gewissen Anmut in all der Hässlichkeit. So durchbricht er immer wieder die Trauer, Verzweiflung und das Unverständnis mit zärtlichen Momenten, die in ihrer Verletzlichkeit und Vergänglichkeit umso bedeutsamer sind. Damit wird auch die allgegenwärtige Schwere und Hoffnungslosigkeit durchbrochen und all das Elend und die Trauer in etwas Bewegendes und Berührendes verwandelt. In seinem adjektivreichen Stil ist der Roman sehr anschaulich. Stuart findet immer wieder die passenden Begriffe, um einprägsame Szenen zu gestalten, die sich den Leser*innen einprägen.
He turned her head to the side to stop her choking on her rising boak. Then he placed the mop bucket near the bed and gently unzipped the back of her cream dress and loosened the clasp on her bra. He would have taken off her shoes, but she wasn’t wearing any, and her legs were white and stark-looking without the usual black stockings. There were new bruises on her pale thighs. Shuggie arranged three tea mugs: one with tap water to dry the cracks in her throat, one with milk to line her sour stomach, and the third with a mixture of the flat leftovers of Special Brew and stout that he had gathered from around the house and frothed together with a fork. He knew this was the one she would reach for first, the one that would stop the crying in her bones.
Shuggie Bain ist hart, manchmal fast quälend, tragisch und gleichzeitig immer wieder hoffnungsvoll. Bildreich und emotional erzählt Douglas Stuart die toxische Beziehung zwischen Mutter und Sohn, die von verzweifelter Liebe und emotionalem Missbrauch geprägt ist. Ein Roman, der mit seinen Beschreibungen und Thematiken herausfordernd ist und die Augen nicht vor der dargestellten Armut und Hoffnungslosigkeit verschließt. Schon jetzt ein heißer Anwärter auf mein Buch des Jahres. Nur selten kommen schriftstellerisches Können, selbst erlebte Thematiken und solch eine konsequente Umsetzung in einem Debüt zusammen.
Die deutsche Übersetzung von Shuggie Bain erscheint am 23.08. bei Hanser Berlin.
Großartiges Buch! Wäre interessant, mal in die Übersetzung reinzuschauen, um zu sehen, was sie mit dem Dialekt gemacht haben.
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