Yoko Ogawa – Das Ende des Bengalischen Tigers/Revenge

Yoko Ogawa Das Ende des Bengalischen Tigers Revenge

Yoko Ogawas Buch Das Ende des Bengalischen Tigers verknüpft elf düster-makabere Geschichten auf herausragende Weise miteinander.

„I was happy to see they have strawberry shortcake. […] I’m buying them for my son. Today is his birthday.“
„Really? Well, I hope it’s a happy one. How old is he?“
„Six. He’ll always be six. He’s dead.“

Das Ende des Bengalischen Tigers, welches in der englischen Übersetzung den kürzeren und deutlich anders anmutenden Titel Revenge trägt, vereint elf extrem atmosphärische Kurzgeschichten: eine Frau kauft in einer Bäckerei Törtchen für ihren verstorbenen Sohn zum Geburtstag, eine alte Dame hütet in ihrem Garten ein dunkles Geheimnis, eine Schriftstellerin verliert langsam den Verstand, eine Affäre endet mehr als verhängnisvoll und ein Täschner fühlt sich von dem offen liegenden Herzen einer Kundin angezogen.

Yoko Ogawas „Roman in elf Geschichten“, wie es so schön auf dem deutschen Cover heißt, hatte für mich nichts besonders romanhaftes. Ein wenig erinnert das Konzept an David Mitchells Werke Der Wolkenatlas, Chaos oder Die Knochenuhren, da auch hier die einzelnen Erzählungen sehr gelungen miteinander verknüpft werden. Die Bäckerei aus der ersten Geschichte taucht später noch einmal auf, genauso wird die weinende Konditorin in einer späteren Erzählung zur Nebenfigur. Eine Geschichte beeinflusst die andere, alles ist, mal in geringem Maße, mal stärker, miteinander verbunden. Dass für mich kein Roman-Gefühl entstanden ist, ist allerdings überhaupt nicht negativ. Die herausragenden Kurzgeschichten ergänzen sich perfekt, durch jede folgende wird die vorher gelesene noch etwas klarer, Hintergründe werden aufgedeckt und vorschnell gewonnene Eindrücke relativiert oder gänzlich umgekehrt.

Some twenty years have passed since our lunch with her father. That Sunday – and the moment in the music room – sank into a hole at the bottom of my sea of memories.

Drei der Geschichten sind im Gegensatz zu den restlichen sehr harmlos und dienen eher als Verbindungsstücke – so auch die titelgebende Story der deutschen Ausgabe. Sie sind immer noch gut, bei ihnen fehlte mir jedoch der Überraschungseffekt, der sich bei allen anderen Geschichten einstellt. Oftmals gibt es erst auf der letzten Seite oder gar im letzten Abschnitt einer Erzählung eine grausame, makabere Wendung. Sobald man dies zum ersten Mal erlebt hat, wartet man regelrecht darauf, dass es erneut passiert. Ogawas Geschichten sind alle kühl wie der Nachtwind in einer dunklen, verlassenen Gasse, der einen erschauern lässt. Man spürt auf jeder Seite, dass das Böse gleich hinter der nächsten Ecke lauert.

Manche der obskuren Ereignisse haben mich an Ray Bradburys Werke, insbesondere seine Kurzgeschichten, erinnert. Auch Liebhaber der Gothic Fiction dürften mit diesem Buch hier auf ihre Kosten kommen. Mich persönlich hat es sehr beeindruckt, dass Das Ende des Bengalischen Tigers von derselben Frau verfasst wurde, die auch Das Geheimnis der Eulerschen Formel schrieb. Diesen Roman las ich vor einigen Jahren und konnte ihm leider nur das Prädikat „ganz nett“ geben. Doch die harmlose, vor sich hinplätschernde Geschichte über einen Professor, dessen Kurzzeitgedächtnis nicht mehr funktioniert und seine neue Haushälterin, die es sich mit ihrem Sohn zur Aufgabe gemacht hat, die harte Schale des alten Mannes zu knacken, hat nichts mit den dunklen, brutalen Kurzgeschichten gemein – glücklicherweise.

„How could he be so cruel? How could he tell me to wait? No, I couldn’t wait any longer. Not one more day, not one more second. […] That’s why I killed him.“

Yoko Ogawas Stories Das Ende des Bengalischen Tigers haben mir zwar nicht das Gefühl eines Romans vermittelt, dennoch ergeben sie gemeinsam ein stimmiges Ganzes. Die elf Geschichten sind nicht nur durch ihre dunkle, mörderische und skurrile Thematik gekonnt verbunden, sondern auch durch verschiedene Figuren und Schauplätze, die immer wieder auftauchen. Durch dieses Buch konnte ich eine völlig andere, mir bisher unbekannte Seite der japanischen Autorin entdecken, die zur Zeit mit ihrem neuen Roman The Memory Police auf der Short List des International Booker Prize steht – und davon lese ich nur allzu gerne mehr!

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