Carsten Jensen – Der erste Stein

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Carsten Jensens Politthriller Der erste Stein über verfehlte Afghanistan-Politik und die Brutalität des Krieges leidet im zweiten Teil an zu einfachen Erklärungen, die den Gesamteindruck schwächen.

In einem Militärcamp in Afghanistan treffen neue Soldaten ein. 24 Männer und die einzige Frau Hannah stehen unter der Führung des charismatischen Rasmus Schrøder. Nach ihrer Ausbildung sind sie motiviert, ihren Dienst in dem fremden Land zu verrichten. Doch schnell zeigt sich, dass die Tage monoton vergehen und auch die Patrouillen keine Abwechslung bieten. Als zwei der Männer durch eine Landmine sterben, wird plötzliche eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt, der keiner entkommen kann…

Carsten Jensen, der selbst als Reisender und Journalist Afghanistan besucht hat und bei den dänischen Streitkräften „eingebettet“ war, erzählt in seinem Roman Der erste Stein von dem Schicksal einiger dänischer Soldaten. Über die Motivation, sich freiwillig für den Einsatz zu melden, erfährt der Leser nicht viel. Bessere Bezahlung, Abenteuerlust, Flucht vor der alkoholkranken Mutter sind die Beweggründe, die angesprochen werden. Im Zentrum stehen zunächst die Soldatin Hannah und der Anführer Rasmus Schrøder, während die Tage in der Hitze und der Ödnis ohne nennenswerte Zwischenfälle vergehen. Neben den beiden spielt auch der Lagerkommandant Steffensen eine tragende Rolle. Seine Aufgabe ist es, mit den Briten, Amerikanern und Warlords zu verhandeln, wobei er kläglich scheitert, ohne es zunächst zu bemerken. Erst ein Hinterhalt, bei dem zwei der Soldaten ums Leben kommen, verändert den Alltag. Als dann auch noch Schrøder die Übrigen verrät, gerät die Situation völlig außer Kontrolle. Diese erste Hälfte des Romans ist von Jensen überzeugend dargestellt. Er schafft es, die Unfähigkeit der ausländischen Truppen die afghanische Kultur zu verstehen, ebenso darzustellen wie die karge Landschaft, die flirrende Hitze und den sich immer wiederholenden Alltag der Soldaten. Dabei wird die Spannung durch immer größere Ereignisse und Wendungen ständig erhöht, was den Roman bis hierhin zu einem außergewöhnlichen Politthriller macht.

Es ist nichts anderes als Theaterkrieg, eine Art Therapie für Soldaten, militärische Berater und Politiker, die ihnen das Gefühl geben soll, etwas unternommen zu haben. Sie brauchen den Glauben, dass dieser unübersichtliche Krieg, bei dem kein Fleckchen Erde jemals ein für alle Mal erobert wird und kein Sieg definitiv ist, doch eine Richtung und einen Sinn hat.

Zum zweiten Teil wird ein Ich-Erzähler eingeführt, der als Mitarbeiter des militärischen Geheimdiensts nach Afghanistan geschickt wird, um die Vorgänge aufzuklären. Hier kippt die Handlung. Schrøder mutiert immer mehr zu einer Art Kurtz aus Herz der Finsternis, der scheinbar übermächtig alle Fäden in der Hand hält und Herr über das Schicksal ist. Er wird zu einem Cyberkrieger, der als ehemaliger Spieleprogrammierer alles nur noch als einen Bildschirm und ein großes Spiel betrachtet, dessen Ausgang ungewiss ist. Gewalteskalation folgt auf Gewalteskalation, wobei es extrem brutal zugeht. Was im ersten Teil noch so gut funktioniert hat, geht hier leider zusehends unter. Zwar spielen die unübersichtlichen Verhältnisse zwischen den Gruppierungen immer noch eine Rolle, ebenso wie die fürchterlichen Auswirkungen für die Zivilgesellschaft, das Ganze rückt aber zusehends in den Hintergrund, ist nicht mehr im Fokus des Erzählens und nur noch eine Art Beiwerk. Was leider überhaupt nicht diskutiert wird, ist der politische Hintergrund in Dänemark. Da hätte der Roman gerne mehr Hintergrundinformationen als die Angst vor einheimischen Terroristen liefern können.

Mit fortschreiten der Handlung bleibt die Spannung zwar hoch, aber sie wird an manchen Stellen auch unglaubwürdig. Ein Junge bringt sich selbst ohne Probleme Englisch mit Hilfe von YouTube bei und wird dabei auch schnell noch zum Militärexperten. Auch die Suche des Geheimdienstmitarbeiters gestaltet sich dank einiger Hinweise sehr einfach. Ein Thema, das immer wieder aufgegriffen wird, ist die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Virtualität, ein Gegensatz der sich natürlich vor allem in Schrøder zeigt. Auch die Soldaten sprechen immer wieder über Spiele wie Call of Duty. Verweise auf den Unterschied zwischen den realen Erlebnissen und dem Gefühl, nur ein Spiel zu spielen, finden sich an mehreren Stellen. Bei der Schilderung der Realität im Krieg beschreibt Jensen detailliert die Brutalität und die physischen sowie psychischen Qualen, denen die Soldaten und die Zivilbevölkerung ausgesetzt sind. Die Konsequenzen einer fehlgeleiteten Politik macht er sichtbar. Dabei präsentiert er seinen Roman in einem nüchternen, aber dennoch eindringlichen Stil. Seine Botschaft, dass sich jeder in einem Krieg die Hände schmutzig macht, ist zwar nicht unbedingt neu, das macht sie aber natürlich nicht schlechter.

„Hier ist eine gute Frage: Ist die Unterhaltungsindustrie ein Nebenprodukt der Kriegsindustrie? Oder umgekehrt? Du weißt selber, wie viele Videospiele vom Militär zu Trainingszwecken entwickelt und später zur Unterhaltung verkauft wurden. Wie viele junge Männer und Frauen melden sich heute zu einem Krieg – und haben die gleichen Erwartungen, als ob sie sich an eine Spielkonsole setzten? Erleben wir den endgültigen Zusammenbruch unserer Fähigkeit, zwischen Symbol und Wirklichkeit zu unterscheiden? Erlischt unser Überlebensinstinkt allmählich?“

Carsten Jensen spart in seinem Roman Der erste Stein nicht mit Kritik an der Afghanistan-Politik. Dabei mutet er seinen Figuren und den Lesern einiges zu. Ein immer wiederkehrendes Motiv ist die sich immer mehr verschiebende Grenze zwischen der Wirklichkeit und der Virtualität, die sich besonders in der Figur Schrøders zeigt. So entsteht ein spannender (und brutaler) Politthriller, der in der zweiten Hälfte aber manchmal auch zu einfache Erklärungen liefert.

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