Ein Autorenporträt
„A screaming comes across the sky“, ist vermutlich einer der meistgefeierten Eingangssätze in der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Satz steht am Anfang des Romans Gravity’s Rainbow (1973) von Thomas Pynchon. Pynchon gehört zu den wichtigsten Autoren der amerikanischen Nachkriegs-Literatur, trotz oder gerade wegen den hohen Anforderungen, die seine Werke an den Leser stellen. Seine Romane wurden ab den 1980er Jahren kanonisiert, vor allem seine beiden wichtigsten Bücher The Crying of Lot 49 (1966) und Gravity’s Rainbow. Seit dem hat er sich einen festen Platz auf den Literaturlisten von Universitäten in den USA und Europa gesichert und ist ein beliebtes Forschungsfeld. Die akademische Beschäftigung mit Pynchons Werk geht mittlerweile so weit, dass Wissenschaftler von einer Pynchon-Industrie sprechen, auch als „Pyndustry“ bezeichnet, in Anlehnung an die Joyce-Industrie. So erscheinen seit 1979 die Pynchon Notes, welche sich ausschließlich mit seinem Werk auseinandersetzen. Aber nicht nur im literaturwissenschaftlichen Betrieb ist Thomas Pynchon eine feste Größe, auch außerhalb hat er viele Fans und genießt einen Kultstatus wie etwa Charles Bukowski.
Biographisches
Doch wer ist der Autor Thomas Pynchon? Bis heute hält er sein Privatleben geheim, so dass nur sehr wenig über ihn bekannt ist. Statt sich auf ihn als Person zu fokussieren, sollen sich die Leser lieber mit seinem Werk beschäftigen. Sein Verzicht auf öffentliche Aufmerksamkeit hat ihm den Ruf eines Einsiedlers eingebracht und seltsame Gerüchte ausgelöst, wie etwa, dass er J. D. Salinger (Soho Weekly News) wäre, was Pynchon mit den Worten „Not bad. Keep trying.“ kommentierte. Um seinen Ruf als Einsiedler zu verspotten, trat Pynchon 2004 in zwei Folgen der Kultserie The Simpsons auf, präsentiert mit einer braunen Papiertüte über dem Kopf, die Stimme der Figur sprach er selbst ein. 2009 fungierte er ebenso als Erzähler für ein Promo-Video seines Romans Inherent Vice. Die Fotos, die von ihm existieren, stammen alle aus seiner High-School und College Zeit.
© Simpsons Wiki
Die Vorfahren Pynchon’s können fast ein Jahrtausend weit zurückverfolgt werden, in die Zeit der normannischen Eroberung Englands. Seine Familie kam bereits 1630 als puritanische Auswanderer nach New England. Als ältestes von drei Kindern wurde Pynchon am 8. Mai 1937 in Glen Cove, Long Island, New York, geboren und wuchs im benachbarten East Norwich auf. Einige seiner bekannten frühen Kurzgeschichten wurden anonym in den Jahren 1952-53 in der High-School Zeitung Purple and Gold veröffentlicht. Nach seinem Abschluss 1953 besuchte er die Cornell-Universität, wo er zunächst Physik und später englische Literatur studierte. Sein Studium musste er unterbrechen und ging für zwei Jahre zur Marine. 1959 konnte er sein Studium erfolgreich beenden und bekam das Angebot eines Woodrow Wilson Stipendiums, mit der Möglichkeit in Cornell kreatives Schreiben zu unterrichten. Pynchon lehnte das Angebot allerdings ab, um sich auf seine eigenen Werke zu konzentrieren.
Während seiner Zeit als Student in Cornell lernte Pynchon andere Autoren und Künstler kennen. Unter anderem den Folk-Sänger und Autoren Richard Fariña, Jules Siegel und Michael Curtis. Bis heute gibt es zudem Gerüchte, dass Pynchon bei Vladimir Nabokov Kurse besuchte, was sich aber nicht endgültig belegen lässt. Sicher aber ist, dass M. H. Abrams einer seiner Dozenten war, der spätere Begründer der The Norton Anthology of English Literature.
1959 wurden seine ersten beiden erwachsenen Kurzgeschichten veröffentlich, The Small Rain und Mortality and Mercy in Vienna. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet er bereits mit der Literaturagentin Candida Donadio zusammen, die ihn auch die nächsten 23 Jahre betreuen sollte. Auch im nächsten Jahr erschienen weitere Kurzgeschichten. Low-Lands wurde mit der Erwartung veröffentlicht, der Autor „would be selling used cars witin a year“, während Under the Rose den O. Henry Award gewann. Ab dem Jahr 1960 arbeitete Pynchon als technischer Schreiber für Boeing, bis er seinen Debütroman V. (1963) veröffentlichte, für den er den Faulkner Foundation Award für das beste literarische Debüt des Jahres erhielt und auf der Finalliste des National Book Award vertreten war. Einige Jahre später wurde The Crying of Lot 49 veröffentlicht, über das der Autor selbst sagte, es wäre eine „story […] which was marketed as a ‚novel‘, and in which I seem to have forgotten most of what I thought I’d learned up till then.”
Den National Book Award erhielt er aber für Gravity’s Rainbow. Der Roman wurde auch für andere Auszeichnungen nominiert, darunter den Pulitzer Preis, wurde aber abgelehnt. Jurymitglieder bezeichneten es als „unreadable, turgid, overwritten and in some parts obscene“. Die Auszeichnung der American Academy of Arts and Letters lehnte er 1975 ab (erst 2009 trat er ihr bei), nahm aber 1988 ein Stipendium der MacArthur Foundation an.
Obwohl Pynchon die Öffentlichkeit meidet, hat er sich doch zu literarischen und politischen Diskussionen geäußert. So unterschrieb er einen offenen Brief der New York Review of Books gegen den Vietnamkrieg. Die Unterzeichner wandten sich unter anderem gegen eine Steuer, um den Krieg zu finanzieren, weshalb Pynchon auf einer Liste des FBI zu finden war. Nach dem Verhängen der Fatwa gegen Salman Rushdie unterstütze Pynchon Kampagnen für den Autor. Außerdem kritisierte er in einer Ausgabe des Playboy Japan Print-Journalismus und Nachrichten-Netzwerke als Propaganda und empfahl ironisch den Kauf von Tabak gegen die Angst vor Terroranschlägen nach dem 11. September 2001. Diese Aussagen wurden von seinen Agenten in seinem Namen bestritten.
Sein Privatleben ist weitestgehend unbekannt. Auch seine Wohnorte sind umstritten. Wahrscheinlich lebte er die meiste Zeit vor allem in Kalifornien. Wo er dort aber genau gewohnt haben soll, ist nicht nachzuweisen. Seit 1989 lebt er gemeinsam mit seiner Frau Melanie Jackson, die gleichzeitig seine Literatur-Agentin ist, und einem gemeinsamen Sohn in New York. Die Versuche von Journalisten, mehr über Thomas Pynchons Privatleben zu erfahren, waren vor allem um die Veröffentlichung von Mason & Dixon 1996 am stärksten. Es wurden Fotos veröffentlicht, die ihn angeblich zeigen sollten und er wurde in seiner Nachbarschaft von CNN gefilmt; eine Veröffentlichung verbot er aber aus Privatsphäre-Gründen. Ausschnitte aus den Ausnahmen wurden in der Dokumentation Thomas Pynchon – A Journey into the Mind of <P> analysiert. Die Dokumentation beschäftigt sich aber mehr mit dem Mysterium um den Autor als mit seinem Werk.
© American Society of Authors and Writers
Themen
Den Status als einer der wichtigsten postmodernen Schriftsteller genießt Pynchon nicht, weil er auf Auftritte in der Öffentlichkeit verzichtet und in mancher Vorstellung ein Einsiedlerleben führt, sondern vor allem aufgrund seines künstlerischen Schaffens. Dieses umfasst mittlerweile acht Romane und mehrere Kurzgeschichten, sowie weitere nicht fiktionale Texte. Seinem Werk wird allgemein ein großes schriftstellerisches Können attestiert, sowie eine Menge an verarbeiteten Informationen, so dass es wie eine Enzyklopädie anmuten kann. Daher wird den Büchern auch eine hohe Komplexität bescheinigt, was auch mit den Verknüpfungen von wissenschaftlichen Bezügen und Figuren einhergeht. Wichtige Bereiche, die der Autor immer wieder verarbeitet sind Politik, Geschichte, verschiedene Bereiche der Philosophie sowie Naturwissenschaften und Technik. Über seinen Stil schrieb der Poet Luis Edward Sissman im New Yorker: „He is almost a mathematician of prose, who calculates the least and the greatest stress each word and line, each pun and ambiguity, can bear, and applies his knowledge accordingly and virtually without lapses, though he takes many scary, bracing linguistic risks. Thus his remarkably supple diction can first treat of a painful and delicate love scene and then roar, without pause, into the sounds and echoes of a drugged and drunken orgy.”
Im deutschsprachigen Raum hat Pynchon mit Elfriede Jelinek eine Fürsprecherin gefunden. Sie war an der Übersetzung von Gravity’s Rainbow beteiligt und hat ein Vorwort für V. geschrieben. Darin schreibt sie: „Für diesen Autor gibt es nur zwei Möglichkeiten: Paranoia oder Anti-Paranoia.“ Paranoia ist ebenso ein uramerikanisches wie beliebtes Thema bei Pynchon. Er fragt, was sie überhaupt ist und wie sie mit dem verbunden ist, was als Realität bezeichnet wird.
Pynchon lesen
Seit der Veröffentlichung seines ersten Buches V. hält sich die Meinung, dass Thomas Pynchon schwierig zu lesen ist. Doch woran liegt das? Ein Punkt ist das umfangreiche kulturelle und wissenschaftliche Wissen, das er verarbeitet, so dass es nur schwer möglich ist, jede Anspielung und jeden Verweis direkt zu erkennen und zu verstehen. Dazu erscheinen die Handlungen fast Labyrinth-artig, mit unzähligen Charakteren und Nebenhandlungen, die zu weiteren Unterhandlungen führen. Ein anderer Punkt sind die chronologischen Strukturen. Pynchon benutzt „Flashbacks“ in „Flashbacks“ und „Flashforwards“ in „Flashforwards“. Immer hilfreich ist das Pynchon-Wiki (allerdings auf Englisch), das viele Erklärungen liefert. Die Schwierigkeit der Bücher schafft unter den Fans eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig bei ihren Reisen in die Pynchon-Welt unterstützt, wobei eben unter anderem das Wiki entstanden ist. Denn Pynchon lässt den Leser alleine. Ohne Unterstützung ist es schwer, sich durch sein Werk zu kämpfen. Dazu passt auch ein Bild, das während der Rezeption Pynchons entstanden ist: „Pynchon is a writer who is making things difficult, and who is actively and programmatically subverting and making fun of the reader’s desire for meaning.“
Seit 1973 werden die Romane von Thomas Pynchon in deutscher Übersetzung vom Rowohlt Verlag verlegt, bis jetzt erschienen sind:
- V. Rauch, 1976, 1988,
- Die Versteigerung von Nr. 49. 1973, 1988.
- Die Enden der Parabel. 1981.
- Spätzünder. Frühe Erzählungen. 1985, 1994.
- Vineland. 1993.
- Mason & Dixon. 1999.
- Gegen den Tag. 2008.
- Natürliche Mängel. 2010.
- Bleeding Edge. 2014.